Anton Latzo: Wende zur Friedenspolitik ist notwendig!

Auf der Alternativen Einheitsfeier am 7. Oktober des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden e. V. sprach der Historiker Prf. Dr. Anton Latzo zum Thema Völkerverständigung. Wir dokumentieren seine Rede hier:

Liebe Freunde, Gleichgesinnte und Gäste,

am 7. Oktober eines jeden Jahres wird der deutsche Staat gewürdigt, der Millionen Menschen geprägt hat, der ihnen aber genommen wurde. Seiner Hauptstadt wurde der Ehrentitel „Stadt des Friedens“ verliehen, weil seine Bevölkerung und seine Politik vom Streben nach Frieden durchdrungen waren. Er hatte eine Verfassung, die durch Volksentscheid angenommen worden war, und die Volk und Regierung verpflichtete, den Weg des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie, des gesellschaftlichen Fortschritts und der Völkerfreundschaft zu gehen. Dieser Staat hieß Deutsche Demokratische Republik.

Mit ihrer Gründung wurde nicht nur den Forderungen der Zeit und den objektiven sozialökonomischen, politischen und geistig-kulturellen Entwicklungen, sondern auch den historischen Erfahrungen des deutschen Volkes entsprochen. Georg Büchner schrieb schon 1835 in einem Brief an einen Freund: „Ich glaube man muss in sozialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volke suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen“.

Linien der Geschichte

Da nach dem 2. Weltkrieg in den westlichen Besatzungszonen die Erfüllung des Potsdamer Abkommens umgangen wurde, haben die Regierungen der BRD, gestützt vor allem von den USA, nur Formen des Regierens geändert. Die vom Monopolkapital bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse und Ziele blieben erhalten. Dazu gehören auch die außenpolitischen Zielstellungen.

Natürlich handelte es sich,wie nach der Novemberrevolution, nicht um das ausgewachsene Expansionsprogramm, sondern zunächst um die Schaffung solcher Bedingungen, die eine Regenerierung des Monopolkapitals erlaubten. Auch das Militär wurde mit seinem Kern erhalten. Justiz und Diplomatie wurden von den alten „Fachleuten“ besetzt. Globke, Heusinger, Speidel sind Symbolfiguren.
Wie nach der Novemberrevolution machte sich dieser Kreis den Gegensatz der kapitalistischen Großmächte gegen die Sowjetunion zunutze und stützte vor allem darauf seine Außenpolitik.

Dazu hat man die außenpolitische Orientierung aufgegriffen, die am Vorabend des Zusammenbruchs des Kaiserreichs geboren wurde. Sie wurde unter der Regierung der Volksbeauftragten beibehalten, in der Weimarer Republik mit dem bekannten Ergebnis des zweiten Weltkrieges praktiziert.
Die Führung der deutschen Sozialdemokraten war aktiver Gestalter dieser außenpolitischen Orientierung, deren Grundsätze in der BRD vor allem durch Kurt Schumacher etabliert wurden, dessen Politik heute im Seeheimer Kreis, der die Regierung Scholz stützt, besonders gepflegt wird.

Das heutige Verhalten der SPD-Führung und das Regierungskonzept der von der SPD geführten Koalitionsregierung werden davon geprägt.
Statt am Ideengut des Internationalen Sozialistenkongresses von 1912 anzuknüpfen, betreiben sie eine Politik, die sich an der Zustimmung zu den Kriegskrediten vor dem 1. Weltkrieg bzw. an der aktiven Beteiligung an der Regierungspolitik bis 1933 orientiert.

Im 100. Jahr seit der Ermordung von Außenminister Rathenau (1922) sei auch daran erinnert, dass sie nicht nur sozialdemokratisches Gedankengut aus der Zeit Bebels aus Programm und Politik weggedrückt hat, sondern auch Lehren aus der deutschen Außenpolitik beiseite lässt, mit der die internationale Isolierung Deutschlands durchbrochen wurde.
Der Rapallo-Vertrag war nicht nur für die Sowjetunion von Vorteil. Er räumte Deutschland große ökonomische Vorteile ein und war auch eine wichtige Stütze im Kampf gegen die Übermacht der damaligen Siegermächte!
Der Rapallo-Vertrag ist ein Beispiel dafür, wie die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland auf der Grundlage der Gleichberechtigung und des gegenseitigen Vorteils geregelt werden können. Er ist ein Ausdruck der Tatsache, dass schon in der Zeit nach der Oktoberrevolution die Stellung zur Sowjetunion zu einer Kernfrage der Politik in Deutschland wurde.

Die Weiterführung einer solchen deutschen Außenpolitik hätte ein wichtiger Beitrag in den Kämpfen um die Verhinderung der Nazidiktatur in Deutschland und des 2. Weltkrieges sein können. Sie wurde aber aufgegeben, weil die Herrschenden und Regierenden befürchteten, sonst die Gunst des amerikanischen Finanzkapitals zu verlieren. Es lohnt sich schon, die damaligen Folgen auch heute zu bedenken!

Negierung nationaler Interessen

Die Adenauer-Regierung hat sich von Anfang an geweigert, die Rapallo-Politik positiv zu betrachten. Das wird deutlich z. B. aus ihren Versuchen, den ehemaligen Reichskanzler Dr. Wirth, dessen Regierung diese Politik verfolgte, in der Bundesrepublik wegen Verrats anzuklagen. Sie weigerte sich, ihm die Reichskanzler- und Ministerrente zu gewähren. Die Bestimmung des heutigen Verhältnisses zu Russland folgt dieser Linie.
Aber auch die Bismarcksche Realpolitik bleibt für die Regierung und ihre Auftraggeber ein Vorgang in den Archiven.
Selbst die von Willy Brandt und Egon Bahr verfolgte Politik wird, wie die Rede des SPD-Vorsitzenden Klingbeil auf dem „Zeitenwende“-Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung (Juni 2022) und die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz zeigen, der Vergessenheit preisgegeben.

Die gegenwärtige Regierungspolitik negiert also eine bestimmte historische Linie in der deutschen Geschichte, in der deutschen Außenpolitik! Ihre Vorstellungen folgen den außenpolitischen Vorstellungen der restaurativen Kreise der Weimarer Republik, die schließlich in die bekannte Katastrophe geführt haben!

Ein zentrales Problem war immer das Verhältnis zu Russland. Wenn Deutschland kein von Vernunft getragenes Verhältnis zu Russland finden sollte, gehen wir gefährlichen Zeiten entgegen. Die vergangenen 150 Jahre haben das gezeigt.

Immer, wenn Herrschende und Regierende in Deutschland ihre Machtpolitik über die Interessen des Landes an gegenseitig vorteilhafter Zusammenarbeit der Staaten und am Frieden gestellt haben, führte es zu gefährlichen Zuständen, zu zwei Weltkriegen!

Deshalb sind wir aufgefordert, Lehren aus der deutschen Geschichte zu formulieren. Wir sollten gelernt haben, dass Sicherheit und Frieden sich nicht automatisch einstellen.
Die Gründung eines bundesweiten „Gesprächskreises für Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit“, einer „Friedenswerkstatt“, könnte einen substanziellen Beitrag zur Stärkung der Friedenskräfte leisten. Hier könnten die drängenden Probleme an der Wurzel gemeinsam bzw. abgestimmt untersucht werden, statt nur Brände zu löschen. Durch gemeinsame Diskussion könnten grundsätzliche Entwicklungen analysiert und eine Art „Leitsätze für den Frieden“ erarbeitet werden, die allen Interessierten zur Verfügung stehen.

Nicht nur europäische, sondern internationale Führungsmacht

Bundeskanzler Scholz und die SPD-Führung haben den Begriff „Zeitenwende“ zur Charakterisierung des Übergangs von der Periode der alleinigen Herrschaft der USA zu einer Etappe, in der auch Deutschland den Anspruch auf Führungsmacht in den internationalen Beziehungen nicht nur proklamiert, sondern aktiv durchsetzen will.

Die „Zeitenwende“ ist nicht Folge einer realistischen Analyse der nationalen und internationalen Prozesse, sondern soll das zu Beginn des Jahrhunderts bei der Aggression gegen Jugoslawien offen eingeleitete Streben der Bundesregierung nach Macht, Einfluss und Herrschaft als alternativlos präsentieren. Es geht nicht um „Demokratien gegen Diktaturen“, sondern um Machtpolitik!

Dies geschieht auf der Grundlage eines regelrechten Widerwillens Berlins, die Außenpolitik in den historischen Kontext einzuordnen und positive Schlussfolgerungen zu ziehen. Vor den Wahlen versprach Olaf Scholz noch, den außenpolitischen Kurs im Sinne Willy Brandts zu aktualisieren. Die von ihm geführte Regierung und die SPD-Führung praktizieren jedoch seine Negierung.

Es handelt sich also um eine „Zeitenwende“ im Imperialismus, der bekanntlich durch den Kampf zweier Tendenzen gekennzeichnet ist – der einen, die ein Bündnis aller Imperialisten dringend erfordert, und der anderen, die die einen Imperialisten den anderen gegenüberstellt. Es geht um die traditionelle Politik der imperialistischen Expansion und Herrschaft. Dieser Kampf wird sich verschärfen! Wer das nicht berücksichtigt oder leugnet, wird die Lage nicht realistisch einschätzen können und zu Fehleinschätzungen kommen.

Ein wichtiges Merkmal dieser „Zeitenwende“ besteht dabei in der Durchsetzung der Rolle des Militärs in der Gesellschaft der BRD. Der Einsatz des Militärischen als Teil der Außenpolitik soll Diplomatie ersetzen. Die Rückkehr des Militärischen in die zwischenstaatliche Konfliktaustragung soll dem Erfolg im Streben Deutschlands, Führungsmacht in der Welt zu werden, Nachdruck verleihen.

Ein weiteres Merkmal der „Politik der Zeitenwende“ besteht im Willen, die bestehenden und neu zu schaffenden Abhängigkeitsverhältnisse anderer Staaten gegenüber Deutschland und die wirtschaftliche Macht Deutschlands zur Ausübung von politischem Druck und Zwang noch radikaler einzusetzen.

Und schließlich ist drittens abzusehen, dass Desinformation und Manipulation einen noch größeren Raum einnehmen. Objektive Prozesse sollen verhindert werden, indem chaotische Zustände provoziert, alte und neue Konflikte geschürt werden, um alternative, souveräne Entwicklungswege und selbständige Außenpolitik zu untergraben (siehe sog. Chaos-Theorie). Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten (z. B. durch Geheimdienste, NGOs und zielgerichtet vorbereiteten Persönlichkeiten) wird verstärkt. Vor allem im osteuropäischen Raum und in den ehemaligen Sowjetrepubliken dürfte das für die BRD einerseits zu einer Ausweitung und Vertiefung der Widersprüche im Verhältnis zu Russland, aber auch der Rivalität mit den USA führen.

Von der in Arbeit befindlichen „Nationalen Strategie…“ ist zu erwarten, dass sie für Deutschland – so Lars Klingbeil – „nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem“ konzipiert. Es wird also eine neue Konzeption sein, aber auf alten Grundlagen aufgebaut. Ihr grundlegender Bezug ist der zu Macht und Herrschaft und nicht maßvolle und auf Ausgleich mit anderen souveränen Staaten ausgerichtete Zusammenarbeit.

Dazu gehört auch, dass die Außenministerin Annalena Baerbock erklärt: „Ich verstehe Außenpolitik als Weltinnenpolitik“. Leider wird der Sprengstoff dieser Aussage zu oft verharmlost.
Die Umsetzung dieser Auffassung beinhaltet aber u. a.:

  • Die Untergrabung der Souveränität der Staaten
  • Die Absicht zur Überwindung der rein zwischenstaatlichen Beziehungen durch schrittweise Aushöhlung der UN-Charta und der in diesem Sinne erarbeiteten demokratischen Prinzipien des Völkerrechts (KSZE)
  • Demnach dürften NATO oder Bundeswehr im Auftrag der NATO manövrieren und militärisch aktiv werden können, wann und wo sie wollen, um die Hegemonie der USA und den Führungsanspruch der BRD durchzusetzen
  • Es gibt keine Sicherheitsgarantien für Russland und die anderen „nichtwilligen“, souveränen Staaten
  • Das Recht der Völker auf Selbstbestimmung ihrer Lebensweise und auf Selbstverteidigung wäre so nicht mehr gewährleistet usw.

Die Aussage „Zeitenwende“ bezieht sich weder auf die zentrale Frage der Friedenssicherung und der Schaffung der dazu notwendigen Strukturen, noch auf die weltweiten objektiven sozialen und kulturellen Prozesse. Zur Idee des gesellschaftlichen Fortschritts gibt es keinen bzw. nur insofern einen Bezug, als es um eine Politik geht, die den Kapitalismus verewigen und gesellschaftlichen Fortschritt verhindern soll. Das charakterisiert die Zeitenwende und die dazu gehörige Politik eindeutig als reaktionär und gefährlich.

Klingbeil, Scholz, Seeheimer Kreis erfüllen ihre Funktion und haben sich endgültig von dem von Willy Brandt und Egon Bahr verfolgten außenpolitischen Konzept losgesagt, um mit den Grünen und den Pseudoliberalen regierungsfähig zu sein, um dem Kapital zu dienen.

Sie haben das Primat des Friedens durch eine Außenpolitik ersetzt, die darauf ausgerichtet ist, zwischenstaatliche Konflikte nicht mit dem Ziel des Interessenausgleichs und der Kompromissfindung auszutragen, sondern der Durchsetzung des Rechts des Stärkeren und dem gewaltsamen Brechen von Widerstand zu gewährleisten. Sie gehen davon aus, dass sich die Geschichte für immer im Rahmen der Epoche des Imperialismus bewegt, dass die Hauptkoordinaten der Epoche, die geschichtlichen Vorgänge, Erscheinungen und Resultate vom Imperialismus bestimmt werden.

Um das zu gewährleisten, sehen sie einen absoluten Schwerpunkt darin, den wachsenden Einfluss der VR China im Bündnis mit Russland und den anderen Staaten in den internationalen Beziehungen durch Bekämpfung bzw. Verhinderung ihrer inneren und internationalen Erfolge zu vereiteln.

Die Politik der BRD unterstellt, dass Deutschland aus dem Ringen um die Lösung der zwischen- und innenimperialistischen Krisen, Widersprüche, Konkurrenzen als Hauptkraft hervorgeht. Neben der Festigung und dem Einsatz ihres ökonomischen Potenzials will sie offensichtlich auf den Ausbau des eigenen militärischen Potenzials und der Erhöhung seiner Effektivität – auch durch Nutzung der Fähigkeiten Anderer über Bündnisse – für ihre Ziele nutzbar machen.
Politik der „Zeitenwende“ bedeutet also gesteigerte Bereitschaft und erhöhte Fähigkeit der BRD, politische, wirtschaftliche, informationstechnische und militärische Elemente zu verknüpfen, um Deutschland als eine internationale Führungsmacht zu etablieren und diese Rolle zu sichern.

Damit zeigt die politische Führung der BRD, dass sie von einer realistischen Außenpolitik weit entfernt ist. Ihre Haltung erwächst aus dem Willen zur Selbstbehauptung und aus ihrem Hass gegen jeglichen gesellschaftlichen Fortschritt. Das haben ihre Parteien auch bei der Zerschlagung der DDR und bis heute bewiesen!
Beherzigen wir deshalb die Erkenntnis von Heinrich Mann: Die Vernunft siegt nie von selbst, sie muss erkämpft werden. Deshalb fordern wir eine „alternative Zeitenwende“ für eine Politik für Arbeit und Brot, in Frieden für alle!

Quelle: Unsere Zeit