Wir wissen, wie das ausgegangen ist

ZLV Zeitung vum Letzeburger Vollek
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Es kommt selten vor, daß ich für die Öffentlichkeit schreibe, aber ich habe das Gefühl, daß ich mich angesichts der jüngsten Ereignisse in Washington DC äußern muß. Vor allem kann ich nicht glauben, daß es überhaupt möglich war, daß so etwas geschieht.

Ich kenne die Polizei in DC ziemlich gut aus persönlicher Erfahrung. Washington ist die am stärksten von Polizeikräften bewachte Stadt der Welt – außer der »Grünen Zone« in Bagdad vielleicht. Es gibt da die Capitol Police, die Metro DC Police, die Mall Police… Ganz zu schweigen von Homeland Security, Secret Service, National Park Police, Gerichtspolizei, FBI und anderen.

Meine Frage ist, wie kann eine so relativ kleine Demon­stration so weit ausarten? Wie kann es möglich sein, daß ein solcher Sturm auf das Capitol Building so lange andauert? Wie kann es sein, daß unsere gewählten Vertreter, die Legislative des angeblich mächtigsten Landes der Welt, derartig lange auf diese Weise bedroht werden?

Ich war 1969 bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg von über einer Mil­lion Menschen dabei, als eine kleine Gruppe das Justizministerium attackierte – eine lächerliche Aktion eigentlich, nur ein paar Dutzend Personen. Sofort tauchten Tausende Polizisten auf, die die gesamte Demonstration mit Gas beschossen. Die ganze Innenstadt von DC war in Tränengas gehüllt. Wo auch immer wir hingingen, gab es Gas, und die Polizei trieb die Leute zusammen. Hunderte, vielleicht Tausende Polizeibusse waren Stoßstange an Stoßstange geparkt und schnitten die Stadt in zwei Hälften.

Meine Freunde und ich wollten gerade zu unserem Bus zurückkehren, als wir um eine Ecke bogen und dort Tausende von Polizisten in voller Ausrüstung in Zweier- und Dreierreihen auf der anderen Straßenseite standen, in alle Richtungen, so weit das Auge reichte. Etwa eine halbe Meile hinter ihnen konnten wir das Weiße Haus sehen. Wir hatten verstanden. Wir kehrten um und gingen den Weg zurück, den wir gekommen waren. Uns war vollkommen klar, daß sie tödliche Gewalt gegen uns angewandt hätten, wenn wir weitergelaufen wären.

Ich frage mich, wo war die Polizei an diesem Mittwoch, wenn doch der erklärte Zweck, der Grund, aus dem diese Leute von Trump nach Washington gerufen worden waren, darin bestand, die Zertifizierung der Wahlergebnisse zu stören? Warum konnte die Polizei das Capitol nicht schützen? Ich weiß, daß die Polizisten wissen, wie das geht, wenn sie es nur wollen.

Warum hat die Polizei diese Aufwiegler derartig mit Samthandschuhen angefaßt?
Ich wurde 1971 bei der Demonstration zum 1. Mai in DC verhaftet. Eigentlich war ich dort in der Gewißheit, verhaftet zu werden. Wir übten zivilen Ungehorsam, nachdem unsere Protestmärsche allein das Töten in Vietnam nicht gestoppt hatten, wo fast 4 Millionen Vietnamesen und mehr als 58.000 unserer Mitbürger getötet worden waren.

Ich saß an einer Kreuzung, als ein Polizist auf einem Motorrad angerast kam, über mich hinwegfuhr und mich zu Boden drückte. Ich habe mich nicht gewehrt. Er war sehr professionell, als er mich in Gewahrsam nahm und mich zum Polizeiwagen führte. Auf dem Weg dorthin kam jedoch ein anderer Polizist auf mich zu und begann mich zu würgen. Zusammen mit meinen Freunden wurden in den Exerzierhof des Gefängnisses von DC geworfen, zusammen mit Tausenden von anderen Menschen, die sie von der Straße hereingebracht hatten. Nicht alle waren Demonstranten. Da war eine ganze Familie, Vater und Mutter in »besserer« Kleidung und zwei kleine Mädchen, die vor Angst zitterten. Sie waren bei den Massenverhaftungen an diesem Tag einfach mit eingefangen worden. 15.000 Menschen mindestens. Die Polizei hat zu dieser Zeit einfach alle und jeden auf der Straße verhaftet.

Also, ich weiß, daß die Polizei von Washington weiß, wie man mit größeren Demonstrationen umgeht, bei denen die Leute das Gesetz verletzen. Warum haben sie das am Mittwoch nicht getan? Es waren doch nur ein paar Tausend Leute…
Das Vorgehen der Polizei erinnert mich daran, wie Aufwiegler in Ohio, rechte Milizen, die die Absicht hatten, den Gouverneur zu entführen, mit Sturmgewehren bewaffnet in der Lobby des Rathauses von Michigan standen und den Polizisten ins Gesicht spuckten, die ihrerseits völlig ruhig blieben und nichts unternahmen.

Andererseits weiß ich, daß, wenn einer meiner Studenten, die überwiegend Farbige waren, mit einer Schußwaffe in der Hand in Albany aufgetaucht wäre, er oder sie regelrecht weggeblasen worden wäre, kaum daß sie die Straße betreten hätten.
Ich erinnere mich daran, daß Polizisten einen gewissen Dylann Roof zu einem Burger King brachten, nachdem er neun Gemeindemitglieder in einer Kirche in Charleston getötet hatte – weil »er hungrig war«. Ich erinnere mich an die Polizisten, die an einem gewissen Kyle Rittenhouse vorbeigingen, der ein Sturmgewehr trug, und der gerade auf zwei unbewaffnete junge Männer geschossen und einen von ihnen getötet hatte, ohne daß die Polizisten ihn überhaupt beachteten – mitten in einem »Aufruhr«, den sie angeblich überwachten.

Natürlich spielt Rassismus bei diesen Beispielen eine Rolle. Weiße Menschen, vor allem wenn sie Rechte sind, haben leichtes Spiel.

Auf der anderen Seite war da Jacob Blake, ein Schwarzer, dem – vor den Augen seiner Kinder – sieben Mal von Polizisten in den Rücken geschossen wurde. Dies ist nur ein Beispiel für unzählige polizeiliche Gewalttaten und Morde.

Diese zwielichtige Haltung der Polizei gegenüber Gesetzesverletzungen erinnert an die Polizei in der Weimarer Republik in Deutschland, die nichts unternahm, um die mörderische Gewalt von Hitlers Braunhemden einzudämmen, während sie tödliche Gewalt gegen friedlich prote­stierende Kommunisten, Sozialisten und Gewerkschafter einsetzte. Wir wissen, wie das ausgegangen ist.

Die Aktionen der Wenigen an diesem Mittwoch lassen unser Land wie ein Witz aussehen. Wie heißt es in unserer Nationalhymne? »Land of the free, home of the brave – Das Land der Freien und die Heimat der Tapferen«? Jetzt nicht mehr. Kein Republikaner, der Trump in den letzten vier Jahren unterstützt hat, sollte jemals wieder von »Recht und Ordnung« oder »Rechtsstaatlichkeit« oder »Demokratie« oder unserer »Großen Republik« sprechen dürfen. Sie sollten niedergeschrien und aus dem Amt gewählt werden!

Und die Polizei? Was für eine erbärmliche Vorstellung! Jeder einzelne Polizist muß sich fragen lassen: Stehen Sie zur Demokratie? Oder gegen sie? Was bedeutet Ihnen »gleicher Schutz durch das Gesetz«, Sie wissen schon, die Verfassung…?

Jon Dennis Regier, New York

Übersetzung: Uli Brockmeyer, ZLV

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek – Wir wissen, wie das ausgegangen ist