Krieg ohne Ende

ZLV Zeitung vum Letzeburger Vollek
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Nach mehr als 180 Tagen ununterbrochener Angriffe Israels gegen die Palästinenser im Gazastreifen – in vielen westlichen Medien weiterhin mit dem beschönigenden Begriff »Militäreinsatz« bezeichnet und als »Konflikt zwischen Israel und der Hamas« dargestellt – setzt die israelische Führung ihre Vorbereitungen für eine Einnahme der Stadt Rafah weiter fort.

Nach einem Telefonat zwischen USA-Präsident Joe Biden und dem israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu wurde nun bekanntgegeben, daß das israelische Kriegskabinett beschlossen hat, zwei Grenzübergänge in den palästinensischen Gazastreifen für Hilfslieferungen zu öffnen.

Geöffnet werden soll der Grenzübergang Erez im Norden, durch den Hilfsgüter aus dem israelischen Hafen Aschdod transportiert werden sollen. Im Süden sollen Hilfsgüter über den Grenzübergang Kerem Shalom aus Jordanien geliefert werden. In einer Mitteilung des Büros von Ministerpräsident Netanjahu hieß es laut »Times of Israel«, die »verstärkte Hilfe« werde »eine humanitäre Krise verhindern« und sei »unerläßlich, um den Kampf fortzusetzen und die Ziele des Krieges zu erreichen«.

Der israelische Minister für Nationale Sicherheit Itamara Ben Gvier kritisierte die Entscheidung und bezeichnete die Erklärung des Ministerpräsidentenbüros als »unrichtig«. Die Minister hätten nicht über die Entscheidung abgestimmt, sagte Ben Gvier von der rechtsextremen, religiös-zionistischen und offen anti-arabischen Partei Otzma Yehudit (Israelische Macht). Hilfe nach Gaza zu bringen sei »der falsche Weg«, um »die israelischen Geiseln aus Gaza zurückzubringen«. »Statt nach Rafah zu marschieren« würden Sachen nach Gaza geliefert, »die direkt an die Hamas gehen«, sagte der Minister.

Druck aus dem Weißen Haus

Netanjahu reagierte mit der Entscheidung auf Druck aus dem Weißen Haus. Biden hatte mit Netanjahu telefoniert und eine Reduzierung der politischen und militärischen Unterstützung für Israel angedroht, nachdem die israelische Armee in der Nacht zum Dienstag dieser Woche einen deutlich gekennzeichneten Konvoi der US-amerikanischen Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK) bombardiert und sieben Mitarbeiter getötet hatte. Die Fahrt war mit den israelischen Militärbehörden koordiniert worden. Bis auf einen palästinensischen Fahrer waren alle Mitarbeiter Ausländer, die aus Australien, Polen und Britannien kamen. Ein sechster Getöteter hatte die kanadische und US-amerikanische Staatsangehörigkeit.

Die israelische Armee veröffentlichte eine formelle »Entschuldigung« und kündigte »eine Untersuchung« an. Netanjahu sprach von einem »Fehler« und sagte »so etwas passiert im Krieg«. Inzwischen hat die Armee angekündigt, ein neues Kontrollzentrum einzurichten, das die Verteilung von Hilfsgütern im Gazastreifen »koordinieren« solle.

Die USA-Administration zeigte sich zufrieden mit der Reaktion der israelischen Seite. Auf die Frage eines Journalisten erklärte John Kirby, Sprecher des Weißen Hauses, auf einer Pressekonferenz, es gebe »keinen Beweis« dafür, daß der Angriff auf die humanitären Helfer »Absicht« gewesen sei. Zudem hätten die USA ein Verfahren installiert, mit dem das Geschehen im Gaza-Krieg beobachtet werde, »wenn es geschieht«, sagte Kirby. Seit Beginn des Krieges habe man »keine Verstöße Israels gegen das internationale humanitäre Recht« festgestellt.

Der katarische Nachrichtensender »Al Jazeera« berichtete, daß alle drei Fahrzeuge des Konvois mit Präzisionswaffen angegriffen worden seien, als sie entlang der Al-Rashid-Straße fuhren. Bei einem ersten Gezielten Angriff sei ein Fahrzeug getroffen worden. und als die Verletzten aus dem Fahrzeug in ein zweites Fahrzeug gebracht wurden, sei das zweite Fahrzeug angegriffen worden.

Hilfsorganisationen setzten ihre Arbeit nach dem Angriff auf die sieben WCK-Mitarbeiter aus Protest gegen die Angriffe der israelischen Armee aus. Christopher Lockyear, Generalsekretär von Ärzte ohne Grenzen erklärte, Angriffe auf humanitäre Helfer durch das israelische Militär seien entweder Absicht oder völlige Inkompetenz. Seit Beginn des Krieges seien mindestens 200 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen getötet worden. Die UNRWA, die UNO-Agentur für Arbeit und Unterstützung palästinensischer Flüchtlinge, erinnerte daran, daß allein 176 UNRWA-Mitarbeiter seit Beginn des Krieges bei israelischen Angriffen getötet wurden.

Israel will die Arbeit der UNRWA ausschalten. Die Netanjahu-Regierung wirft der Organisation »Komplizenschaft« mit der Hamas vor, die die Regierung in dem Küstenstreifen stellt und die UNRWA »übernommen habe«, wie der israelische Botschafter in Berlin vor Journalisten am 28. März erklärte. Die UNRWA war 1949 zur Unterstützung der palästinensischen Flüchtlinge der großen Vertreibung (1947/48) gegründet worden und gilt als die größte und erfahrenste, und somit kompetenteste Organisation für die Versorgung der palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachfahren.

Die Sache sei ernst, hieß es in der »Jerusalem Post«. Es bestehe die Gefahr, daß World Central Kitchen sich nach dem Angriff ganz zurückziehen werde. Das Gleiche könnte mit dem Welternährungsprogramm der UNO (WFP) und anderen Gruppen passieren. Sollten aber zu viele dieser Hilfsorganisationen auf Dauer abziehen, werde »Israels umfassender Plan zusammenbrechen, die UNRWA mit Organisationen zu ersetzen, die nur Nahrungsmittel verteilen« und »nicht die Politik der Hamas unterstützen«, so die »Jerusalem Post«. Dann müßte Israel sich selber um die Verteilung von Lebensmitteln an die palästinensischen Zivilisten kümmern, was Israels Regierung und die Militärführung unbedingt vermeiden wollen.

Eine »zu geringe Versorgung der Zivilbevölkerung« könnte wiederum die Bereitschaft der USA beeinträchtigen, einen Großangriff auf Rafah zu unterstützen. Israel gebe sich alle Mühe, die USA davon zu überzeugen, daß es in der Lage ist, 1,4 Millionen palästinensische Zivilisten evakuieren zu können, ohne daß »viele von ihnen zu Schaden« kämen.

Israel braucht Hilfsorganisationen, um 1,4 Millionen Palästinenser zu versorgen, wenn die israelischen Truppen die Stadt Rafah nicht mehr nur aus der Luft und mit Artillerie, sondern auch am Boden angreifen. Israel braucht World Central Kitchen, um die UNRWA zu ersetzen.

Die in Genf ansässige Menschenrechtsorganisation Euro-Med-Monitor veröffentlichte derweil zu Beginn dieser Woche – am 180. Tag des Krieges – eine Auflistung der Folgen der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023. Danach wurden 41.496 Personen bei Angriffen getötet, einschließlich derer, die noch unter den Trümmern von Gebäuden begraben sind. 122.500 Wohnungen wurden total, 269.700 Wohnungen teilweise zerstört. 443 Schulen, 2.217 Werkstätten und Fabriken, 301 medizinische Einrichtungen wurden ganz oder teilweise zerstört, darunter 29 Krankenhäuser, 69 Gesundheitszentren und 203 Ambulanzfahrzeuge. Neben 200 Kulturstätten wurden 647 Moschen und 3 Kirchen ganz oder teilweise zerstört.

Was das für die Menschen bedeutet, erläutern die Zahlen nicht.

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek