Eine Krise des Systems

Der Rücktritt der Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokraten hat erneut die tiefe Krise verdeutlicht, in der sich nicht nur ihre Partei befindet. In dem Moment, da diese Ausgabe in den Druck geht, ist noch nicht klar, ob in den nächsten Stunden oder Tagen mit weiteren Rücktritten zu rechnen ist. Denn das Problem der SPD ist tatsächlich nicht größer als das der CDU samt ihres bayerischen Anhängsels.

Es handelt sich hier um weit mehr als ein Personalproblem. Die Tatsache, daß alle Welt nun herumrätselt, wer sich irgendwann für den Vorsitz der »alten Tante SPD« hergibt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die Partei bereits seit Jahrzehnten in einer tiefen Krise befindet. Einst gegründet als stolze Arbeiterpartei, die das Bismarcksche Sozialistengesetz und andere Repressalien sogar gestärkt überlebt hatte, hat sie ihren politischen Charakter als Kämpferin für die Interessen der Arbeiter spätestens im Jahr 1914 auf dem freien Markt verscherbelt, als ihre Abgeordneten im deutschen Reichstag der Kriegserklärung ihres Kaisers zujubelten und die Kriegskredite bewilligten – mit einer ruhmreichen Ausnahme, da der Abgeordnete Karl Liebknecht als einziger aufstand, um dem Kriegskurs laut und deutlich zu widersprechen.

Die weitere Entwicklung führte die Partei Stufe für Stufe abwärts – beginnend mit der Verhinderung einer wirklichen sozialistischen Revolution nach dem Sturz des Kaisers 1918, über den »Blutmai« von Berlin, als ausgerechnet ein Sozialdemokrat (»Einer muß der Bluthund sein«) auf demonstrierende Arbeiter schießen ließ, bis hin zur fast bedingungslosen Kapitulation angesichts der Übergabe der politischen Macht an Hitlers braune Truppen. Diejenigen Sozialdemokraten, die sich dem Widerstand anschlossen und sich gemeinsam mit Kommunisten und vielen anderen Demokraten in den Gefängnissen und Konzentrationslagern der Faschisten wiederfanden, gereichen der Partei heute noch zur Ehre, ebenso wie jene, die nach 1945 im Osten Deutschlands die Lehren aus der Geschichte zogen und mit den Kommunisten eine gemeinsame Arbeiterpartei gründeten.

Im Westen Deutschlands wurde die SPD nach 1945 erneut gleichgeschaltet und wetteifert seitdem mit den Konservativen um den Titel der besten Verwalter des kapitalistischen Systems. Damit ist sie nun gründlich gescheitert. Wer auch immer demnächst den Posten des Vorsitzenden übernimmt, an der Linie des politischen Scheiterns wird sich nichts ändern.

Die aktuelle Krise der SPD, die auch eine Krise der deutschen Bundesregierung ist, wirft zugleich ein klärendes Licht auf die Krise des kapitalistischen Systems als Ganzes. Keine Regierung eines der Länder des Kapitalismus ist in der Lage, die drängendsten Probleme der Menschheit zu lösen. Grundlegende Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit, auf eine zumutbare Wohnung, auf Bildung, auf gesundheitliche Fürsorge werden tagtäglich verletzt. Die lebenswichtigen Fragen, die zuletzt immer stärker von jungen Menschen aufgeworfen werden, prallen an den Regierungen ab wie Wasser an einer Ölhaut.

Allein die Forderung nach mehr Klimaschutz zeigt, daß dieses System unfähig zu einer Lösung ist. Denn jede Detailfrage, die für die Rettung des Klimas thematisiert wird, stößt an eine harte Grenze. Die besteht darin, daß im Kapitalismus ALLES eine Ware ist oder eine Ware werden kann, eine Ware, mit der diejenigen, die sie besitzen oder die sich ihren Besitz anmaßen, Profit machen wollen und dürfen. Um das zu ändern, helfen keine Personalrochaden oder politische Reformen. Für eine echte Änderung ist es unabdingbar, das ganze System zu ändern.

Uli Brockmeyer

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek