Das Märchen von der Lohn-Preis-Spirale

ZLV Zeitung vum Letzeburger Vollek
Zeitung vum Letzeburger Vollek

Wenn es gegen den Index oder eine Erhöhung der Löhne geht, kommt kein Patronatsvertreter umhin, eine Behauptung aufzustellen, die zum Standardrepertoire der herrschenden Volkswirtschaftslehre gehört: Die Lohn-Preis-Spirale.

Für den unbedarften Betrachter scheint es, als würden sich Löhne und Preise gegenseitig nach oben drücken. Deshalb wird behauptet, höhere Löhne würden zu steigenden Preisen führen. Steigende Preise bei einer gleichzeitigen Indexmanipulation wiederum zwingen die Gewerkschaften, höhere Löhne für die Schaffenden zu fordern, um ihr tatsächliches, das inflationsbereinigte Realeinkommen zu sichern.

Das Patronat begründet steigende Preise mit gestiegenen Lohnkosten, und die Gewerkschaften ihre Lohnforderungen mit den gestiegenen Preisen. Langfristig, so die Behauptung, ändere sich nichts an der Reichtumsverteilung. Lohnerhöhungen seien nur kurzfristig wirksam und würden durch höhere Preise, und höhere Preise wiederum durch einen Anstieg der Löhne ausgeglichen.

So erweist sich die angebliche Lohn-Preis-Spirale als eine Behauptung, mit der die gegenwärtige Reichtumsverteilung scheinbar erklärt und in den Stand eines Naturgesetzes erhoben wird. Wenn die Löhne so stark steigen wie die Produktivität, mindert ihr Anstieg den Profit nicht, heißt es in den gängigen Lehrbüchern. Die Preissteigerungsrate entspreche nämlich der Differenz aus der Lohnsteigerungsrate und der Produktivitätszuwachsrate. Von den sonstigen Kosten wird dabei willkürlich abgesehen. Ist der Produktivitätsanstieg gleich null, würden dieser Behauptung zufolge die Preise prozentual so stark steigen wie die Löhne.

Diese Behauptung ist aber nicht haltbar: Wenn ein Kapitalist seine Ware zu einem Preis von 100 Euro verkauft, und der Anteil der Lohnkosten am Preis 20 Prozent beträgt, weshalb müssen dann die Preise bei einer Lohnerhöhung um zwei Euro (zehn Prozent) ebenfalls um zehn Prozent – also um zehn Euro! – steigen? Vielmehr würde in unserem Beispiel die zehnprozentige Lohnerhöhung nur zu einer zweiprozentigen Preiserhöhung führen.

Daran wird deutlich, daß es geradezu absurd ist, den Gewerkschaften die Schuld an steigenden Preisen zu geben. Tatsächlich zeugen steigende Preise vom kapitalistischen Streben nach höchstem Profit. Wenn die Preise, die sonstigen Kosten und die Produktivität gegeben sind, gehen die Profite im Ausmaß der Lohnsteigerung zurück. Und genau das will das Patronat verhindern.

Deshalb erhöht es die Preise. Was als lohnbedingte Preissteigerung hingestellt wird, ist der Versuch, eine Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten der Schaffenden zu verhindern. Die Unterstellung einer festen Beziehung zwischen Löhnen und Preisen, die Behauptung, die Warenpreise würden durch die Arbeitslöhne bestimmt, ist unhaltbar. Die Preise folgen in erster Linie nicht den Löhnen. Profitstreben, Marktmacht und die Abschöpfung von Liquidität sowie erwartete Kosten- und Preiserhöhungen sind wichtigere Einflußfaktoren.

Das Märchen von der Lohn-Preis-Spirale ist so alt wie die Arbeiterbewegung selbst. Schon Karl Marx hat in seinem Vortragsmanuskript »Lohn, Preis und Profit« ähnlichen Vorstellungen eine Absage erteilt und aufgezeigt, daß Forderungen nach Lohnerhöhung immer nur Abwehrkämpfe sind, die das zurückfordern, was den Lohnabhängigen Stück für Stück vom Kapital genommen wird.

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek