Tarifabschluss im öffentlichen Dienst: Stillhalten statt Klassenkampf
Übernommen von Yeni Hayat / Neues Leben:
Mit großem medialen Aufwand hat die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di den jüngsten Tarifabschluss für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen als Erfolg verkauft. Doch ein genauerer Blick offenbart: Dieser Abschluss ist kein Durchbruch, sondern ein fauler Kompromiss – mit weitreichenden Folgen für die Arbeiterklasse.
Nicht einmal 25 % der ver.di-Mitglieder beteiligten sich an der Abstimmung über den Abschluss. Von diesen stimmten nur knapp 52 % mit Ja. Das bedeutet: Nur rund 13 % der gesamten Mitgliedschaft haben aktiv für diesen Abschluss votiert. Eine so dürftige Beteiligung verweist nicht nur auf Frust innerhalb der Basis – sie entzieht der Entscheidung auch jede ernsthafte demokratische Legitimation. Dass die Gewerkschaftsführung das Ergebnis dennoch als „Rückenwind“ feiert, ist ein Schlag ins Gesicht all jener Kolleginnen und Kollegen, die in den letzten Monaten auf die Straße gingen.
5,8 Prozent mehr Lohn klingen zwar auf den ersten Blick gut, genauer betrachtet sieht es jedoch etwas anders aus. Denn die Gehaltssteigerung verteilt sich auf zwei Etappen: die erste jetzt, die zweite Erhöhung kommt erst im Mai 2026, also eine Gehaltssteigerung nur ganz knapp über der Inflationsrate. Das ist nicht einmal ein Drittel von jenen 8 Prozent, die Verdi für 2025 gefordert hatte. Preisexplosionen bei Miete, Energie und Lebensmitteln haben längst tiefe Löcher in die Haushaltskassen der Beschäftigten gerissen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Reallohnkürzung auf Raten – stabilisiert durch gewerkschaftliches Stillhalten.
Wie so oft werden auch diesmal soziale Elemente wie gestaffelte Erhöhungen für untere Entgeltgruppen vorgeschoben, um den Abschluss als sozial ausgewogen zu verkaufen. Tatsächlich verschärft diese Logik die Spaltung: zwischen Jung und Alt, zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten, zwischen Kernbelegschaft und prekären Randzonen wie dem Sozial- und Erziehungsdienst. Anstatt diese Ungleichheiten kämpferisch zu überwinden, dient der Abschluss dazu, sie zu verwalten.
Anstatt Klassenwidersprüche offen zu benennen, stellt sich ver.di seit Jahren in den Dienst der „Standortsicherung“ und „Verantwortung“ – also der Logik von Staat und Kapital. Die Tarifrunde hätte angesichts der prekären Lage im öffentlichen Dienst ein Kristallisationspunkt für eine breite soziale Bewegung werden können. Stattdessen wurde gestreikt wie auf Bewährung, mit kurzen Warnstreiks und ohne ernsthafte Eskalation. So wird Klassenkampf simuliert, aber nicht geführt. Die Folgen dieser Burgfrieden-Politik sind dramatisch. Die Beteiligung an Tarifrunden sinkt, das Vertrauen in die Gewerkschaftsführung zerbröselt, viele Mitglieder wenden sich ab oder resignieren still. Ohne kämpferische Alternativen droht die Gewerkschaft zur bürokratischen Hülle zu verkommen – verwoben mit Staat und Kapital, aber entfremdet von ihrer Basis. Wer jetzt schweigt, akzeptiert die schleichende Entpolitisierung der organisierten Arbeiterbewegung. Der öffentliche Dienst ist nicht nur ein Arbeitsfeld, sondern ein Kampffeld. Hier entscheidet sich, ob gesellschaftliche Daseinsvorsorge als Profitquelle oder als Menschenrecht organisiert wird. Wer in Zeiten von Aufrüstung, Sozialabbau und autoritärer Wende klein beigibt, stabilisiert eine Ordnung, die die Mehrheit der Bevölkerung unter ihren Rädern begräbt.
Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben