17. Juli 2025

17. Juli 2025
KulturUZ - Unsere Zeit

Was es heißt, Kommunistin zu sein

Übernommen von Unsere Zeit:

Von Misa Harz

„Ich bin zuhause“, strahlt Ellen. Sie steht auf dem Franz-Mehring-Platz, die Besucher der UZ-Friedenstage haben gerade die Internationale angestimmt. Ein Meer aus Fäusten ist zu sehen und Ellen mittendrin. Nur wenige Stunden zuvor hatten wir eine gemeinsame Veranstaltung absolviert. Es war eine Premiere. Wir kannten uns bis dahin nur telefonisch und auch das Format war neu. Ich las, Ellen sprach. Gemeinsam war es ein Leichtes, Ellens fortschreitende Erblindung zu überwinden.

Anfang 2024 bekam ich einen Brief von ihr als Reaktion auf eine Hausarbeit über die „Kleinstadtnovelle“ von Ronald M. Schernikau. Ihm vorangestellt ist ein Zitat aus der „Legende“:

„das denken
denken, gegen die welt denken, auf neues hin denken, leute mitnehmen, da sein, schon dort sein, nicht weggehen, den zu gehenden weg denken, damit fang an: jetzt.“

Es ist ein Zitat, das auf den Autor ebenso zutrifft wie auf seine Mutter.

Zu lesen ist davon in „Irene Binz“. Die Lebensgeschichte Ellen Schernikaus basiert auf einem dreitägigen Gespräch, das Ronald M. Schernikau 1980 mit seiner Mutter führte. Ursprünglich habe sie die Geschichte selbst verfassen wollen, sie jedoch letztlich ihrem Sohn geschenkt. Dieser machte aus ihr Literatur und sie damit zu einem formvollendeten Beispiel, von dem sich lernen lässt. In Mathias Frings’ Schernikau-Biografie „Der letzte Kommunist“ steht der schöne Satz Ronalds über die „Irene Binz“ geschrieben: „Ich versuche die große Frauengestalt unserer Epoche zu gestalten.“ Mit einer Frau wie Ellen lässt sich das schon machen.

Am 17. Juli 1936 in Magdeburg geboren, wuchs Ellen Lea Schernikau auf mit Krieg und Faschismus. Der Vater Nazi, die Mutter bis zuletzt Hitler für „keinen schlechten Mann“ haltend, lassen Ellen dennoch am politischen Leben der noch jungen DDR teilhaben und den Sozialismus gestalten. Mit 14 tritt sie der FDJ bei und hat fortan die Arbeit mit den Pionieren im Kopf. Mit 16 beendet sie vorzeitig die Schule und gerät durch Zufall an einen Ausbildungsplatz zur Krankenschwester. Ein Beruf, der ihr, wie sie immer wieder betonte, große Freude bereitet hat.

Nach der Ausbildung geht es für Ellen zurück nach Magdeburg. Dort wird sie Mitglied der SED und tut ihre Arbeit am Sozialismus. Sitzt in der Hochschulgewerkschaftsleitung, ist Vorsitzende der Abteilungsgewerkschaftsleitung Chirurgie, ist aktiv in der Betriebssportgruppe und arbeitet an der „Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“ mit. Dazu kommen einmal im Monat das Parteigruppentreffen und, weil der Wissensdurst groß ist, einmal im Monat Parteilehrjahr. Letzteres gefiel Ellen besonders, denn die Treffen waren auch für Nichtmitglieder der Partei offen und boten Raum für gemeinsames Lernen und Diskussion.

Nur einmal will sie austreten, weil die Genossen teilweise privat anders sprechen als in der Partei. Das kann sie nicht ertragen – und gerade das ist ihre Stärke.

Mit 22 lernt sie Thomas kennen, wird von der Liebe gepackt und nicht mehr losgelassen. Politisch haben sich beide nichts zu sagen:

„Vom Kommunismus wollte er tausend Farben.
Ich hab verteidigt das, was es schon gab.
Die warn doch überall, die noch nichts taten
Und alles wollten. So war Thomas auch.“

Es ist eine zehrende Beziehung, aber wenn sie zu zweit sind, ist alles vergessen und die Welt könnte nicht schöner sein. Sie will Kinder von ihm. Ihr Wunsch wird erfüllt. 1959 wird sie schwanger. Sie ist unverheiratet, aber das ist in der DDR keine große Sache. Sie weiß, für das Kleine ist gesorgt.

Am 11. Juli 1960 wird Ronald Lothar geboren. Ellen ist vom Glück beflügelt. Sie hat das größte Geschenk in ihren Armen und „den schönsten Mann der Welt“ an ihrer Seite.

Nur drei Monate später kommt es anders. Thomas hat einen Tipp bekommen: Eine Steuerprüfung steht an. Der Briefmarkenhändler hatte seine Bücher nicht richtig geführt, es droht Gefängnis, er entscheidet sich für die Flucht in den Westen.

Thomas ist weg und die Zerreißprobe für Ellen beginnt.

So wie er gehen viele. Abgehauen, von einem auf den anderen Tag, weg. Auf Arbeit nehmen die Kollegen es hin und auch in der Parteigruppe wird der Umstand kaum thematisiert. Ellen weiß, das war ein Fehler. Sie begreift: Um es anders zu machen, muss man erst verstehen, warum die Menschen gehen. Dass der Sozialismus es besser machen kann, ist sie sich sicher.

Auch nach Thomas‘ Weggang geht das Leben weiter. Ellen ist Leiterin einer Station im geteilten Dienst, Ronald besucht die Wochenkrippe des Betriebs. In dieser Zeit der emotionalen Wirrungen setzt es ihr besonders zu, dass sie ihren Kleinen nur alle zwei Wochen für zwei Tage zu Gesicht bekommt. Nach einem Jahr hält sie es nicht mehr aus und bekommt prompt ein Traumangebot: eine Stelle als Schulschwester. Ellen wollte sowieso immer Lehrerin werden. Jetzt konnte sie ausbilden und ihren Ronald jeden Tag von der Krippe abholen. Sogar die Wochenenden hat sie frei.

Aber die Zweifel bleiben. Zwar ist inzwischen die Mauer gebaut und der Verbleib entschieden, aber die Sehnsucht nach Thomas ist groß. Sie will den Vater für Ronald. Sie hat ein schlechtes Gewissen ihrem Kind und ihrem Land gegenüber und sie will „das Richtige“.

Thomas besorgt 1966 die Überfahrt mit einem Fluchthelfer. Im Kofferraum eines Diplomatenwagens geht es für Ellen und Ronald in den Westen.

Endlich mit Thomas, einen Vater für das Kind. Doch die Ernüchterung folgt rasch. Thomas hatte trotz Ehefrau und Kindern Ellen und Ronald in die BRD geholt. Zu guter Letzt entpuppt er sich als Nazi und für Ellen steht der Schlussstrich fest. Das erträumte Familienglück wird es nicht geben. Ellen und Ronald sitzen fest.

Drüben ist jetzt hier und jegliche Sicherheit Vergangenheit. Sie ist auf sich allein gestellt. Die Stelle als Nachtwache im Krankenhaus bringt fast nichts ein. Sie ist aufs Klauen angewiesen. Ihr einziger Lichtblick sind die DDR-Fernsehserien und Bücher, die sie regelmäßig geschickt bekommt.

In einem Radiostück des Autors Michael Sollorz aus dem Jahre 2016 berichtet Ellen von der damaligen Situation. Man merkt ihr die lange Freundschaft mit ihm an. Da spricht sie ganz in dem Vertrauen, schonungslos ehrlich sein zu können. Sie gesteht Fehler ein. Erzählt davon, wie sie es nicht schafft, mit Ronald offen und ehrlich die Situation zu besprechen, und wie sie versäumt, zu erkennen, dass dieser unter den Umständen leidet. Er wird aggressiv, sie ist überfordert. Ronald kommt in die Kinderheilanstalt. Selbst Jahre später macht sie sich Vorwürfe, da hat ihr Sohn ihr längst verziehen.

261101 - Was es heißt, Kommunistin zu sein - DDR, Ellen Schernikau, Frauenpower, Kommunistin - Kultur
(Foto: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag)

Sie weiß, Fehler kann man nicht ungeschehen machen, man kann nur dazu stehen. Als 1972 der Grundlagenvertrag unterzeichnet wird, ist sie eine der ersten, die rüberfährt. Sie hätte zu diesem Zeitpunkt auch zurückgehen können. Hat es aber nicht getan. Sie habe sich geschämt, habe alle im Stich gelassen und enttäuscht. Und sie hätte Ronald, der sich gerade erst in der neuen Umgebung eingelebt hatte, wieder herausreißen müssen. Das hätte sie nicht verantworten können. Mit den Konsequenzen ihrer Entscheidung hatte sie nun zu leben.

Ellen findet wieder Arbeit als Lehrschwester, wie es in der BRD heißt. Sie ist beschäftigt mit ihrem Beruf, mit der Planlosigkeit ihrer Stelle, mit dem, dass alles so anders ist. – Dieses Land geht sie nichts an. In der DDR war sie vielseitig politisch aktiv gewesen, hier bleibt sie für zehn Jahre auf sich zurückgeworfen. Auch wenn sie auf Arbeit als „rote Socke“ gilt, weil sie zur DDR steht, bleibt sie inaktiv. Was an politischer Arbeit in der BRD möglich ist, in den Gewerkschaften und im Betrieb, das ist ihr nicht geheuer. Alles ändert sich, als Ronald mit 16 Jahren Genossen aus der DKP kennenlernt und seine Mutter dazu ermutigt, mit ihm zu einem Treffen zu gehen. Sie wird in der Parteigruppe aktiv, ohne selbst Mitglied zu werden.

Noch weiß sie nicht, dass Ronald ein Jahr später mit dem Manuskript seines Debütwerks beginnen sollte. Der sehr erfolgreichen „Kleinstadtnovelle“. Sie weiß nur, dass sie ein ungemein kluges Kind hat, das sich trotz BRD-Schulbildung und Nazivater, der Mutter folgend, seine Zukunft in den Kommunismus legt. Sie weiß, dass er es nicht immer leicht haben wird, auch wegen seiner sexuellen Orientierung. Ronalds Schwulsein war erst eine Vermutung, dann bestätigt, dann keine große Sache. Sie hatte begriffen.

Nach dem Abitur geht es für Ronald nach Berlin zum Studium und sie fährt alle Vierteljahre nach Magdeburg. 1989 ist es dann so weit. Ellen entscheidet sich endgültig, zurückzugehen. Sie hat die Staatsbürgerschaft der DDR beantragt zu einem Zeitpunkt, in dem die sozialistischen Staaten schwer in der Krise stecken. Ellen glaubt an die Stärke des Sozialismus und verabschiedet sich mit den Worten: „Ich habe 23 Jahre versucht, eine BRD-Bürgerin zu werden. Es ist mir nicht gelungen. Ich gehe nach Hause.“

Zurück in Magdeburg wird ihr eine Wohnung zugewiesen, in der sie bis zuletzt leben wird. Es sind vier Wochen bis zum vorläufigen Sieg der Konterrevolution. Sie will wieder in die SED eintreten. Es ist ein Kinderspiel, als wäre sie nie weg gewesen. Doch mit dem 9. November kommt alles anders. Sie weiß, dass nun die Entlassungen drohen, die hohen Mieten. Es will keiner hören. Es versteht keiner. Sie muss wieder mal das Schweigen lernen und wird Karteileiche. Man schickt sie auf Kur. Sie verkraftet den Verlust des Landes kaum, steht mehrfach vor dem Nervenzusammenbruch.

In unserer letzten Telefonaufnahme erzählt Ellen davon, wie die DDR zwar den Kapitalismus in der Theorie vermitteln konnte, aber das fehlende Praxisverständnis zum Verhängnis wurde. Da war das Staunen und die Verzauberung über das Angebot des Westens, aber die Einsicht darin, dass es alles Oberfläche ist, war nicht zu vermitteln. Diese besorgte die Zeit. „Jetzt begreife ich, was du damals meintest“, bekommt sie oft zu hören. „Jetzt seid ihr im Praktikum“, antwortet sie.

Sein Land zu verlieren ist eine Sache, seinen Sohn eine andere. Am 20. Oktober 1991 stirbt Ronald in Folge von Aids. Ellen erfährt es am Telefon. Sie ist wütend, enttäuscht und traurig. Warum hatte er ihr die Krankheit verschwiegen? Es beginnt die dunkelste Zeit.

Ohne Ronald, ohne DDR schwindet der Wille, weiterzumachen. Als Krankenschwester kennt sie sich aus. Guckt sich ein Medikament aus. Wenn sie es hätte, würde sie es tun. Ein befreundeter Arzt sagt: Ich besorge es dir. Sie stutzt und weiß, sie will es nicht. – Sie will leben.

Fast zeitgleich geht sie in den Vorruhestand. Nun hat sie Zeit, das Werk ihres Sohnes zu studieren. Sie lernt viel über ihn, über sich. Es bringt ihr ihren Sohn näher, das tut gut und schmerzt zugleich. Sie möchte miterleben, wie das Werk ein Eigenleben bekommt und Ronald unsterblich macht. Nicht selten erzählte sie am Telefon von den Verkaufszahlen der Bücher Ronalds. Immer mit einer Mischung aus Bewunderung und Stolz darüber, dass er nicht totzukriegen ist.

Sie trifft sich mit Thomas Keck, dem Lebensgefährten Ronalds. Er versorgte den literarischen Nachlass und arbeitete daran, dass Ronald M. Schernikau doch noch zu seinem verdienten Ruhm kam. Sie planen Lesungen. Ihre Veranstaltungen sind gut besucht. Vor allem junge Leute fasziniert das Werk des divenhaften Kommunisten. Und Ellen ist sichtlich stolz. Mit viel Elan wird sie nicht müde, das Werk ihres Sohnes zu besprechen, und vermittelt auch immer ihre eigenen Erfahrungen und Haltungen. Sie, die beide Systeme kennengelernt hat, kennt die Errungenschaften und die Fehler, die im Sozialismus gemacht wurden. „Etwas loben können“ und „Was man liebt, das kritisiert man“. Es sind jene Sätze, die ihr ebenso wie Ronalds Werk eingeschrieben sind.

„Ich kritisiere, weil ich will, dass sich was ändert, und nicht, weil ich wen kleinmachen will. Man ist doch nicht gleich ein Klassenfeind, wenn man sagt: Die DDR nervt. Dieses einseitige Denken, das darf nicht wieder vorkommen. Die Jungen müssen das jetzt schwören.“ Der letzte Satz ist halb im Scherz gesagt und dennoch: Ellen weiß es wie Ronald: „der kommunismus wird siegen werden“.

Mitte der 1990er Jahre trifft die Liebe Ellen ein weiteres Mal und soll bis zuletzt Bestand haben. Auch nach Jahren Fernbeziehung ist es das Schönste, die Verliebtheit in Ellens Stimme zu hören, wenn sie sagt, dass ihr Peter sie am Wochenende besuchen kommt.

In Schulen berichtet sie als Zeitzeugin von der DDR und Anfang der 2000er vermittelt sie ihr Wissen als Krankenschwester beim Aufbau einer Krankenstation in einem Kloster in Myanmar. Ellen ist umtriebig, egal wie viele Jahre das Leben ihr abringt. Sie weiß, dass sie das von vielen Gleichaltrigen unterscheidet, die oft, auf Krankheit zurückgeworfen, nur über diese sprechen. Dass es immer ein Morgen gibt, egal wie es geht, macht Ellen ewig jung.

Auf der Fensterbank steht ein Foto Ellens, aufgenommen bei den UZ-Friedenstagen. Ich hatte es ihr per Post geschickt, in extra groß. Ellen sagt: „Ich bin schon eine attraktive Alte“ und lacht. Ich kann ihr nur zustimmen.

Dass sie nicht mindestens 100 geworden ist, entrüstet mich. Am 29. April starb Ellen einen ellenschen Tod, verkündet mir eine Stimme am Telefon. Ich denke: Natürlich war sie selbst dem Tode überlegen, und nehme mir ein Beispiel.

Quelle: Unsere Zeit