Jahresdepression

Die Luft ist raus, aber in Brüssel und Berlin tut man so, als seien EU und Euro topfit

Es macht keinen Spaß. Aber am Jahresanfang ist es vielleicht mal wieder Zeit, sich die eigenen Irrtümer vor Augen zu halten. Es sind viele, und viele habe ich auch verdrängt. Aber am schwersten liegt mir im Magen, daß der Neoliberalismus, dessen Ende vor zehn Jahren mit der Finanzkrise hätte eingeleitet werden sollen, auch 2017 keine weiteren Zeichen des Ablebens von sich gibt.

Eher ist das Gegenteil der Fall.

Das ganze System funktioniert einigermaßen. Der Euro – auch von mir mehrmals schon totgesagt – ist nach wie vor Zahlungsmittel in reichlich vielen Ländern EU-Europas. Am schlimmsten: Die von den Neoliberalen gepriesenen Wundermittel der Wirtschaftspolitik – Lohnkürzung und Spardiktate für das gemeine Volk, noch mehr Geld in die Hände der ohnehin Reichen und Förderung der Spekulation – sie funktionieren. Jedenfalls sind 2017 keine Banken und keine Staaten zusammengebrochen. Der Laden läuft.

In dieser Stunde der Besinnung ein Wort darüber, warum der Neoliberalismus das Zeitliche längst hätte segnen sollen. Nicht weil die neoliberale Theorie (»der Markt hat immer recht und darf nicht gestört werden«) sich vor aller Augen als Quatsch herausgestellte. Entscheidend ist vielmehr die Praxis der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die direkt in die Finanz- und Weltwirtschaftskrise geführt und die Regierenden gezwungen hat, damit innezuhalten. Bankenrettung, Verstaatlichung, Nullzins, Konjunkturspritzen in Höhe mehrerer hundert Milliarden Euro (oder Dollar) sind alles andere als eine konsistente neue Wirtschaftspolitik, aber sie sind nicht-neoliberale Eingriffe in die Reproduktion des weltweiten Monopol- und Finanzkapitals – zu dessen Rettung. Die neoliberale Praxis mußte unterbrochen werden bei Strafe des Systemabsturzes. Und das wurde sie.

Aber eben nur unterbrochen. Am System wurden Notoperationen durchgeführt, die alles andere als geplant waren. Frau Merkel, die auch 2008 schon deutsche Bundeskanzlerin war, entschuldigte sich ein Jahr später für die keynesianischen Konjunkturprogramme bei den Spitzen der Wirtschaftsverbände und versprach, das System so wetterfest zu machen, daß derart unerwünschte Eingriffe des Staates nicht mehr notwendig sein würden. Sie irrte sich bekanntlich. In der Euro-Staatsschuldenkrise mußten abermals Hunderte von Milliarden Euro aus dem Staatshaushalt verpfändet werden, um das Euro-Projekt zu retten.

Aber die Improvisationen waren bisher erfolgreich. Das System funktioniert mühsam zusammengeflickt wieder ganz ähnlich wie vor 2007. Das Zurückbleiben der weltweiten Nachfrage hinter der munter expandierenden Produktion (vor allem in den neu vollkapitalisierten Ländern) wird ganz wie einst durch den noch schneller wachsenden Finanzsektor kompensiert. Die Ungleichheit steigt rasant an. Sie zeigt, daß die allgemeine Krankheit des Kapitalismus im Neoliberalismus eine besonders bösartige Form entwickelt hat, die wieder zum Ausbruch drängt.

Lucas Zeise

 

Aus: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek