DFG-VK Baden-Württemberg zu Steinmeiers Vorschlag einer »sozialen Pflichtzeit«

Als Landesverband BadenWürttemberg der Deutschen Friedensgesellschaft Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFGVK), der ältesten und traditionsreichsten Organisation der deutschen Friedensbewegung, lehnen wir die von Bundespräsident FrankWalter Steinmeier während seiner vom 7. bis 9. Juni 2022 dauernden »Ortszeit Rottweil«, in der er seinen Amtssitz für drei Tage nach Rottweil in BadenWürttemberg verlegte und von dort aus seine Amtsgeschäfte führte, in einem Interview mit der Sonntagszeitung »Bild am Sonntag« vorgeschlagene »soziale Pflichtzeit«, die bei der Bundeswehr oder bei sozialen Einrichtungen geleistet werden könnte, entschieden ab.

Die Zuschreibung des Attributes »sozial« erweckt den falschen Eindruck, dass auch eine bei der Bundeswehr abgeleistete Pflichtzeit einen sozialen Charakter besäße. Dabei ist es vielmehr so, dass die für das Militär ausgegeben Milliarden gerade erst haben der Deutsche Bundestag und der Bundesrat das 100 Milliarden Euro schwere Sondervermögen für die Bundeswehr beschlossen viel dringender im sozialen Bereich, z. B. in der Bildung und im Gesundheitswesen benötigt würden. »Dieser Milliarden verschlingenden Militarisierung das Label sozial anzuheften, bildet eine bemerkenswerte Schönfärberei und Verbalkosmetik«, kommentiert unser Geschäftsstellenleiter Thomas Tews.

Zudem nahmen in den geregelten Freiwilligendiensten im In und Ausland im Zeitraum 2020/2021 trotz Corona insgesamt 97.459 Menschen teil, davon 53.331 im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ), 28.164 im Bundesfreiwilligendienst (BFD) und 3.170 im Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ). Vor dem Hintergrund dieser Zahlen erscheint Steinmeiers rhetorische Frage, »ob es unserem Land nicht guttun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen«, obsolet, denn dies geschieht bereit in großem Umfang, wie der Erfolg der Freiwilligendienste zeigt. »Sollte nun den auf eigeninitiativem Engagement basierenden, rein zivilen Freiwilligendiensten durch eine auf staatlichem Zwang beruhende, zivilmilitärische soziale Pflichtzeit das Wasser abgegraben werden, würde dies wohl das Ende des Erfolgsmodells der Freiwilligendienste bedeuten«, befürchtet Thomas Tews.

Wenn Steinmeier als Vorzüge einer »sozialen Pflichtzeit« nennt, »raus aus der eigenen Blase« zu kommen und »ganz andere Menschen« zu treffen, wirkt dies reichlich paternalistisch, zumal gegenüber einer jungen Generation, die zum Teil sehr engagiert gegen den Klimawandel, unter dem insbesondere sie zu leiden haben wird, kämpft. Den Angehörigen dieser in eine schwierige Zukunft blickenden Generation nun eine bestimmte Zeitspanne ihres Lebens ihrer Selbstbestimmung zu entreißen und sie zu einer »sozialen Pflichtzeit« zu zwingen, stellt einen kaum zu rechtfertigenden Eingriff in ihre Grundrechte dar. Nach Artikel 12 Absatz 2 des Grundgesetzes darf niemand »zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht«. »Herkömmlich« ist die Pflicht nur dann, wenn sie bereits üblich ist (z.B. Feuerwehrpflichten oder Deichdienste an den Meeresküsten), d. h. es dürfen keine neuen Dienstpflichten eingeführt werden. Für die Einführung einer »sozialen Pflichtzeit« müsste also erst das Grundgesetz mit jeweils einer Mehrheit von zwei Dritteln in Bundestag und Bundesrat geändert und das vor Arbeitszwang schützende Grundrecht weiter eingeschränkt werden.

Zuletzt sei auf die problematischen historischen »Vorbilder« für eine allgemeine Dienstpflicht in Deutschland hingewiesen. Die Nationalsozialisten führten 1935 für Männer und 1939 auch für Frauen die Reichsarbeitsdienstpflicht sowie 1938 für Frauen das Pflichtjahr in Land und Hauswirtschaft ein. Als bewusste Abkehr von dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat formulierten die Mütter und Väter des Grundgesetzes in den Artikeln 1 bis 19 die Grundrechte als Abwehrrechte der Bürger*innen gegen staatliche Eingriffe sowie zum Schutze und zur Garantie ihrer Freiheit. »Diese Freiheitsrechte sollten wir nicht zugunsten einer allgemeinen Dienstpflicht einschränken«, so Thomas Tews.

Quelle: DFG-VK Landesverband Baden-Württemberg