Noch mehr Öl ins Feuer

Der Journalist Fehim Taştekin über die Hintergründe der jüngsten Angriffe der türkischen Armee auf Rojava, 05.11.2018

Die Türkei, die nach der Besatzung Afrins weiterhin bestrebt ist auch die Gebiete östlich des Euphrat anzugreifen, beschießt seit einigen Tagen Kobanê und Girê Spî (Tall Abyad) und testet damit die Reaktionen. Das ist zum einen die Bekundung der eigenen Ernsthaftigkeit gegenüber den internationalen Akteuren im Syrien-Konflikt, zum anderen ein Vorstoß um Gründe für eine Intervention zu schaffen und die Kurden wiederum zur Erwiderung zu zwingen. Darüber hinaus ist dies auch als ein Versuch zu verstehen Idlib von der Tagesordnung zu rücken, da die Türkei ihre Verpflichtungen in Hinsicht auf die Pufferzone nicht vollständig erfüllt hat.

Innenpolitisch betrachtet, kann all dies auch mit den nahenden Kommunalwahlen zusammenhängen. Die Regierung muss nach so viel Zerstörung erkannt haben, dass es die Kurden mit leeren Worten nicht wiedergewinnen wird und hat wohl das Bedürfnis den Nationalismus lebendig zu halten.

Diese Angriffe, die als das Vorspiel einer Operation aufgefasst werden können, sind eine grenzüberschreitende Version der Politik in der Türkei, die darauf abzielt die kurdische Frage durch Vernichtung, Verleugnung und Zerschlagung zu lösen. Dabei wird der eigenen Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft als Begründung die Terror- und Sicherheitsgefahr vorgeschoben.

Die Regierung spricht davon, die mit der „Operation Olivenzweig“ in Afrin hervorgebrachte Ordnung oder das Modell der Pufferzone in Idlib, in die Gebiete östlich des Euphrat zu tragen. Auf jeder Ebene wird dies zum Thema gemacht und der Handel mit den USA und Russland dreht sich darum. Um in Syrien Entwicklungen zugunsten Ankaras zu schaffen oder die Aufmerksamkeit zu zerstreuen, werden immer wieder Diskurse geschaffen, die auf die Selbstverteidigungseinheiten (YPG) und die Partei der demokratischen Einheit (PYD) abzielen. Da dieses Beharren andauert, muss es wohl von Nutzen sein. Innenpolitisch scheint es wohl zu wirken: die grenzüberschreitenden Interventionen verdecken die wirtschaftliche, politische und rechtliche Katastrophe. Die Regierung zähmt auf diese Weise die Opposition und bringt alle zum Schweigen. Keiner wagt es die Geschehnisse in Afrin zu thematisieren.

Die Plünderungen, Erpressungen, Entführungen und Forderungen nach Lösegeld, die Folter und Hinrichtungen, die von den Gruppen in Afrin verübt werden, kennt keine Grenzen. Alle Arten von Erpressungen, das Abholzen der Olivenbäume… Diese Verbrechen werden nicht einmalig, sondern jeden Tag verübt. Über diese Dinge zu sprechen ist nun Verrat am Vaterland. Früher haben die türkischen Medien zumindest die Dinge, die sie nicht selbst zum Ausdruck brachten, über Berichte von internationalen Menschenrechtsorganisationen nach außen getragen. (…) Die AKP-Regierung, die versucht die salafistischen und dschihadistischen Gruppen, die allesamt in der UN-Terrorliste aufgelistet sind, mithilfe politischer Verhandlungen an der Macht in Damaskus teilhaben zu lassen, sieht die Versprechungen der Kurden nach einem gemeinsamen Zusammenleben und ihren begonnen Dialog mit Damaskus als eine große Gefahr an. Die türkische Politik macht den Frieden unmöglich und überschreitet die Grenzen. So wie es die Rechte der Kurden im eigenen Land nicht akzeptiert, versucht sie dies auch außerhalb durchzusetzen. Diese Politik ist ein wesentlicher Faktor, der die kurdische politische Identität im Norden Syriens seit den 1920er Jahren formte. Hinter der Wut Ankaras steht eine Kontinuität und Kausalität. Es findet objektive Gründe für dieses Handeln. Es ist dasselbe Verständnis, das damals angesichts des politischen Widerstands von kurdischen Intellektuellen, Aghas und Scheihs von der französischen Mandatsregierung forderte die „Aktivitäten der Kurden zum Erliegen zu bringen“ und heute von Damaskus fordert „keine Verhandlungen mit den Kurden, wir erlauben keine Autonomie und werden eingreifen“. Dieses Verständnis machte den Friedensprozess in der Türkei zu Nichte. Dieses Verständnis führte im Jahr 2012 die Dschihadisten verkleidet als Freie Syrische Armee zum Angriff auf Rojava und wies nach 2014 auch dem Islamischen Staat (IS) den Weg. All dies drängte die Kurden zu den USA!

Wir müssen die kurz- und langfristigen Folgen dieses Eingreifens sehen. Diejenigen die Afrin als eine Erfolgsgeschichte betiteln, werden morgen nach dem Rückzug der türkischen Streitkräfte keine glaubwürdige Erklärung dafür haben, was sich verändert haben soll.

Mit dem Vorstoß der Türkei hat der IS, der in Hajin, Şaafa und Susa in Bedrängnis geraten war, noch einmal Luft bekommen. Das Rückbein der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), die YPG haben die Operation gestoppt und Einheiten in den Norden geschickt. Die Kurden versuchen den USA zu erklären; „wenn du den Krieg gegen den IS fortsetzen möchtest, stoppe die Türkei“. Die USA wollte während der „Operation Olivenzweig“ nicht in Konfrontation mit der Türkei geraten. Bei Angriffen auf die vom IS befreiten Gebiete hat die USA die Türkei entweder abgeschreckt oder beschwichtigt. Das sofortige Handeln des Pentagon und das Telefongespräch zwischen Trump und Erdogan nach dem letzten Angriffen der Türkei zeigen, dass die USA noch nicht an dem Punkt sind die Kurden fallen zu lassen. Natürlich kann sich diese Situation bei neuen Bedingungen schnell verändern. Auch die Kurden sehen die USA nicht als einen absoluten Garanten an. In jedem Fall wird die USA ihre Partnerschaft mit der QSD solange fortsetzten, bis die US-Agenda in Syrien abschlossen ist. Währen dessen wird das Trauma in den türkisch-amerikanische Beziehungen lebendig bleiben.

Die Interventionsdrohung kann die Kurden noch mehr zu den Verhandlungen mit Damaskus drängen, aber auch das ist kein Ergebnis im Sinne Ankaras. Russland investiert in diese Option. Im Sinne Erdogans hingegen ist die endgültige, absolute Zerschlagung.

Die Folgen der türkischen Syrien-Fantasie nimmt somit ausgeprägte Formen an: auf der einen Seite verspricht es der Opposition ein „demokratisches Syrien“ und unterstützt dabei verdeckt Dschihadisten. Auf der anderen Seite ist es gegenüber den Kurden für eine Kontinuität des Baath-Systems in Syrien. Hat denn das Verbrennen von tausenden Dörfern in den 1990ern Jahren und zuletzt die Zerstörung von Cizre, Nusaybin und Sur die Probleme mit den Kurden gelöst, dass nun dieselbe Zerstörungspolitik zu Ergebnissen in Syrien führen soll? Als ob die Verdunklung einer gemeinsamen Zukunft von Türken und Kurden in der Türkei nicht reicht, wird mit grenzüberschreitenden Abenteuern eine demokratische Lösung in Syrien untergraben. Kurz gefasst, die Hölle sucht wieder nach Öl.

Im Original erschien der Artikel am 02.11.2018 unter dem Titel “Bu cehenneme ateş lazım!” auf der Homepage des Nachrichtenportals Gazete Duvar.

Quelle:

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.