Prioritäten in Zeiten von Corona

Jeder und jede von uns muß sich in Zeiten der Corona-Pandemie auf die neue Situation einstellen, einige liebgewordene Gewohnheiten zurückfahren, sich vor Ansteckung schützen, Rücksicht auf die Mitmenschen nehmen. Ratschläge von außen sollten sorgfältig geprüft und angenommen werden, sofern sie sinnvoll erscheinen und sich bewährt haben. So sichern wir unsere eigene Gesundheit und im Extremfall unser Überleben, und so haben wir eine große Chance, gestärkt und mit neuen Erkenntnissen aus der Krise herauszukommen.

Ein solcher zutiefst menschlicher, logischer und erfolgversprechender Weg läßt sich auch auf die gesamte Gesellschaft anwenden – vorausgesetzt, diese Gesellschaft ist dazu bereit. Im Fall der Europäischen Union sind da jede Menge Zweifel angezeigt. Denn dieses Bündnis besteht aus Staaten, die nicht dazu geschaffen wurden, die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung zu sichern und zu vertreten – einer Mehrheit von Menschen, die mit ihrer Arbeit ihr Leben bestreiten. Kapitalistische Staaten handeln stets im Interesse der herrschenden Klasse, also derer, die im Besitz der Banken und Konzerne sind – bei Marx heißt das Besitz der wichtigsten Produktionsmittel. Und der Staat selbst ist, wie wir von Marx wissen, ein Machtinstrument der herrschenden Klasse.

Die Europäische Union wurde von diesen Staaten gegründet und ist immer mehr zu einem Staatengebilde geworden, das auf multinationaler Ebene die Funktion des Machtinstruments übernommen hat. Diese – und nur diese – Funktion bestimmt ihre gesamte Politik. Jegliche Beschlüsse und Entwicklungen unterliegen dem Grundgesetz des Kapitalismus, laut dem nichts unternommen wird, was nicht der Sicherung und der Mehrung des Profits der Besitzenden dient.

Die aktuelle Corona-Krise ist ein weiterer Beleg dafür. Die einzigen Entscheidungen, die in der EU-Führung völlig unumstritten getroffen wurden, dienen der Sicherung des Funktionierens der Banken und Konzerne. Nachdem über Jahrzehnte soziale Errungenschaften durchlöchert und abgebaut wurden, öffentliche Dienstleistungen entweder im Interesse des Profits der Besitzenden privatisiert oder bis zur Unkenntlichkeit zurückgefahren wurden, geht es nun zuvörderst darum, die großen Unternehmen und die Banken vor den Auswirkungen einer neuen Krise zu schützen – einer Krise, die schon jetzt größere Wirkung hat als die Wirtschafts- und Finanzkrise, deren Folgen seit über zehn Jahren immer noch spürbar sind.

Diese EU tritt mit den USA in einen Wettbewerb, wer den Banken die größeren Milliardensummen in den Rachen wirft. Solidarität mit besonders betroffenen Ländern und Regionen war ohnehin nicht zu erwarten, dazu ist diese Struktur nicht geschaffen worden. Und genau diese Untätigkeit angesichts des Leidens reißt der EU jetzt ihre »humane« Maske vom Gesicht. Zudem ist sie zerfressen vom Ehrgeiz, ihr Einflußgebiet zu erweitern, aktuell um zwei Balkanstaaten, weil sie dort den »wachsenden Einfluß Rußlands und Chinas« zu entdecken glaubt.

Über die Rettung von Menschenleben, die Eindämmung der Krankheit, den Schutz vor einer weiteren Ausbreitung, den Wiederaufbau des in fast allen Mitgliedstaaten kaputtgesparten Gesundheitswesens war beim »Video-Gipfel« nicht viel zu hören. Das wird sich auch nicht wesentlich ändern, wenn die zwei Wochen selbstauferlegter Bedenkzeit vorüber sind. Zu Beschlüssen im Interesse des Lebens und der Gesundheit der Menschen statt dem Wohlergehen der Banken ist die EU nicht konstruiert. Sie läßt sich auch mit Reformen nicht verändern – und gehört daher abgeschafft, je eher, je besser für uns alle.

Uli Brockmeyer

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek