Rede zur Kundgebung von „Kiel for Palestine“

Liebe Freundinnen und Freunde,

Mein Name ist Lili Sommerfeld, ich bin Jüdin und ich bin heute hier um zu sagen: Israel spricht NICHT in meinem Namen!

Ich stehe hier als Teil der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost. Wir stehen hier zusammen, Jüdinnen und Juden, Muslime, Christ*innen, Palästinenser*innen, Israelis und Deutsche. Und wir alle sind vereint im Widerstand gegen die Besatzung, die Apartheid und die andauernde Nakba.

Am vergangenen Samstag habe ich in meiner Heimatstadt Berlin auf einer Demo gesprochen. Dort stand ich gemeinsam mit meinen palästinensischen Brüdern und Schwestern, die gerade mal wieder nachts nicht mehr schlafen können aus Angst um ihre Familien in Gaza. Einige haben auch letzte Woche wieder Verwandte verloren. Doch jetzt gibt es einen Waffenstillstand! „Hurra!“ sagen viele in Europa, endlich wieder Ruhe! Doch ein Waffenstillstand bedeutet noch lange keinen gerechten Frieden und darüber müssen wir heute sprechen.

Gerade in Deutschland erleben wir, wie schwer es uns gemacht wird, wenn wir für ein freies Palästina unsere Stimmen erheben. Wie selten es uns ermöglicht wird, palästinensische Lebensrealitäten sichtbar zu machen. Zu groß ist die deutsche rassistische Angst vor arabischen Stimmen, zu groß das blinde Vertrauen in den deutschen Partner Israel.

Doch eigentlich weiß es selbst die deutsche Mehrheitsgesellschaft längst: Die Situation, in der Palästinenserinnen und Palästinensern seit Jahrzehnten sind, ist unaushaltbar. Ob sie in Ostjerusalem, im Westjordanland, in Flüchtlingslagern, in Gaza oder selbst in Israel leben. Eigentlich, wenn Deutsche sich mal trauen genau hinzuschauen, wenn sie Organisationen wie Human Rights Watch, B’tselem oder den zahllosen palästinensischen Initiativen zuhören, dann wissen sie das alles längst. Die Informationen sind längst verfügbar.

Also frage ich euch, liebe Medienvertreter*innen, lieber Politikerinnen und Politiker in Deutschland: HOW ARE WE GONNA FIX THAT? Was ist euer Plan? Wollt ihr nach jeder sogenannten Eskalation, nach den tausenden Verletzten und Toten, wollt ihr Palästinenser*innen wieder zurückkehren lassen in einen Alltag voller Unterdrückung? Werdet ihr weitere 54 Jahre zulassen, dass euer Freund und Partner Israel Menschen- und Völkerrecht verletzt, während er mehrere Millionen Leute unter Militärbesatzung hält? Während er hunderte Minderjährige ohne Anklage in Administrativhaft festhält?

Lasst ihr zu, dass Palästinenser*innen, die seit Generationen in Ostjerusalem leben, aus ihren Häusern in Sheikh Jarrah und Silwan geworfen werden, damit jüdische Familien aus Brooklyn, New York dort einziehen können?

Lasst ihr zu, dass die Westbank weiter durch Straßen zerstückelt wird, auf denen nur jüdische Siedler fahren dürfen? Dass im Stadtzentrum der größten palästinensischen Stadt Hebron eine jüdische Enklave geschaffen wurde, die Palästinenser*innen nicht betreten dürfen und in der 700 jüdische Siedler von 2000 Soldaten bewacht werden? Dass die Besatzung in regelmäßigen Abständen Menschenleben fordert, wenn der nächste schwer bewaffnete Soldat sich von einem palästinensischen Kind bedroht fühlt?

Lasst ihr zu, dass diese Unterdrückung zwangsläufig wieder und wieder in Gewalt und noch mehr Gegengewalt umschlägt?

Oder erkennt ihr endlich an, dass auch ein Waffenstillstand für die Menschen in Palästina noch keinen Frieden bedeuten kann? Wenn die Rückkehr zum Status Quo nur weitere Besatzung, Apartheid und Siedlerkolonialismus mit sich zieht, dann ist der Status Quo keine Option mehr!

Aber Deutschland hat ein Problem. Deutschland hat eine schreckliche Vergangenheit. Aber anstatt für diese Vergangenheit echte Verantwortung zu übernehmen, versuchen gerade viele Kräfte in Deutschland die Schande der eigenen Nazivergangenheit in unsere migrantischen Communities abschieben.

In der vergangenen Woche habe ich zahlreiche Interviews gegeben. In jedem einzelnen wurde ich gefragt, ob ich angesichts der sogenannten „antisemitischen Demonstrationen“ in Deutschland nun als Jüdin in Berlin-Neukölln mehr Angst hätte. Darauf antworte ich:

Angst habe ich, wenn der Kanzlerkandidat der größten deutschen Volkspartei den rechtsextremen Hans-Georg Maaßen vor Antisemitismusvorwürfen schützt, während er unsere gemeinsame jüdisch-palästinensische Demo in Berlin als antisemitisch brandmarkt.

Angst habe ich, wenn er dabei vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein unterstützt wird.

Angst habe ich, wenn die rechtspopulistische AfD, die mit 13 % im Bundestag sitzt, vom Holocaust als Vogelschiss spricht, während sie politisch gleichzeitig stramm an der Seite der israelischen Regierung steht.

Angst habe ich, wenn ich etwa zehn Mal am Tag eine Schlagzeile über den angeblich „importierten Antisemitismus“ lese, während Neonazis in Neukölln Autos anzünden und private Daten von linken Berliner*innen sammeln, aber der Zeitungsartikel darüber auf eine halbe Seite passt.

Ich fordere hiermit die deutsche Öffentlichkeit auf, die Mehrheitsgesellschaft, die Medienvertreterinnen und -vertreter, die Politik: Lasst nicht zu, dass die Schuld eurer Vorfahren euch den Blick vernebelt! Euer „Nie wieder“ MUSS ergänzt werden. Es reicht nicht zu sagen: Nie wieder darf das Juden passieren. Es muss heißen: Nie wieder darf so etwas irgendjemandem passieren! Die Lehre aus den Verbrechen der Nazis MUSS die Charta der Menschenrechte sein, nicht die koloniale Politik Israels.

Wir werden es nicht länger tolerieren, dass die deutsche Politik mit zweierlei Maß misst: Wenn Palästinenser*innen sprechen von „From the river to the sea“ – „Vom Jordan bis zum Mittelmehr“, dann fordern sie eine Anerkennung der Opfer der Nakba 1948. Nicht mehr und nicht weniger.

Israelis jedoch müssen „from the river to the sea“ schon lange nicht mehr aussprechen, denn sie kontrollieren sowieso längst das gesamte Gebiet. Die völkerrechtswidrigen Siedlungen im Westjordanland, die rücksichtslose Landnahme, die kontinuierliche Vertreibung aus den Häusern Ostjerusalems verfolgen letztendlich einen einzigen Zweck: die Judaisierung des gesamten Gebiets – From the river to the sea. Diese ethnische Säuberung Palästinas IST die andauernde Nakba.

Und wie steht Deutschland dazu? Ein gestottertes „wir verurteilen den Siedlungsbau“ von Heiko Maaß bei gleichzeitiger Waffenlieferung? NOT GOOD ENOUGH!

Wir fordern, dass sich die deutsche Regierung endlich an die eigenen Standards hält. Dass sie Freiheit, Selbstbestimmung und Menschenrechte nicht nur der Bevölkerung Israels zugesteht, sondern auch der Palästinas. Dass sie aufhört sich hinter dem Schutzschild der angeblichen Antisemitismusbekämpfung zu verstecken und den Tatsachen ins Auge sieht: Israel ist ein Apartheidsstaat. Und Apartheitsstaaten sind keine Demokratien.

Doch es gibt auch Hoffnung: Mit jedem Tag wächst die Solidarität mit Palästina,  und das auf ganzen Welt. Große Teile von Fridays for Future und Black Lives Matter haben sich bereits mit uns solidarisiert. Und auch wir jüdischen Stimmen -– in Europa, den USA, aber auch in Israel – werden immer lauter, weil wir uns nicht länger for den Karren eines unterdrückerischen Systems spannen lassen wollen. Keine Besatzung dauert ewig. Kein Apartheidsystem bleibt für immer bestehen. Und wenn die deutsche Mehrheit nicht schon wieder auf der falschen Seite der Geschichte stehen will, dann sollte sie so schnell wie möglich der Tatsache ins Auge sehen, dass wir längst eine globale Bewegung sind: Jüdinnen und Juden, Palästinenser*innen und alle anderen, die mit uns solidarisch gegen Unterdrückung kämpfen. Wir sind da, wir sind laut und keine Diffamierung der Welt wird uns auseinander bringen. Wer Frieden, Gleichberechtigung und Menschenwürde für ALLE Menschen zwischen Jordan und Mittelmeer möchte, der kann nur eine Forderung haben: Free Palestine!

Quelle: Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V. – Rede zur Kundgebung von „Kiel for Palestine“