Systematische Überlastung

Immer mehr Beschäftigte arbeiten am Limit. Sie werden im wahrsten Sinne des Wortes von ihren „Arbeitgebern“ krank gespart. Kein Wunder, dass der Ruf nach Entlastung unter den Kolleginnen und Kollegen lauter wird, ob in der Pflege, an Flughäfen, bei der Bahn oder im Bildungs- und Erziehungsbereich. Schon vor Krise und Pandemie war ihr Arbeitsalltag von hohem Zeitdruck, zunehmender Arbeitsverdichtung und quantitativer Überlastung geprägt. Im Rahmen des „DGB-Index Gute Arbeit“ – einer repräsentativen Befragung von mehr als 6.500 Lohnabhängigen – gab jeder Vierte an, dass die zu bewältigende Arbeitsmenge nicht in der dafür vorgesehenen Zeit zu bewältigen sei. Eine systematische Überlastung ist die Folge.

Der DGB-Index belegt, dass eine zu hohe Arbeitsmenge meist in engem Zusammenhang mit anderen belastenden Merkmalen der Arbeitssituation steht. Betroffene lassen immer häufiger Erholungspausen ausfallen, fühlen sich nach der Arbeit oft erschöpft und schätzen ihren Gesundheitszustand schlechter ein als Beschäftigte, deren Arbeitsalltag nicht von Überlastung geprägt ist. Eine zentrale Ursache solcher Überlastungssituationen ist Personalknappheit. 38 Prozent der Beschäftigten gaben in der Befragung an, dass sie wegen fehlenden Personals mehr Arbeit bewältigen oder länger arbeiten müssen. Sie leisten deutlich häufiger Überstunden und machen Abstriche bei der Qualität der Arbeit, um das geforderte Arbeitspensum überhaupt schaffen zu können.

Individueller Einfluss auf die Arbeitsmenge und Anpassungen der Ziele bei unvorhergesehenen Ereignissen könnten wirksame Instrumente zur Vermeidung von Überlastung sein. Die Praxis zeigt jedoch, dass zwei Drittel der Beschäftigten ihre Arbeitsmenge gar nicht oder nur in geringem Maß beeinflussen können. Flexibilitätspuffer, wie zum Beispiel eine Anpassung der Arbeitsmenge an veränderte Rahmenbedingungen, stehen gerade einmal für die Hälfte der Befragten zur Verfügung.

Diese weit verbreiteten schlechten Arbeitsbedingungen und die damit verbundenen zunehmenden Belastungen sind nicht vom Himmel gefallen. Sie sind das Ergebnis von Privatisierungswahn und Outsourcingwellen in Folge der Liberalisierungsvorgaben der EU und der praktizierten Politik in den Mitgliedstaaten seit den 1990er Jahren.

Der Wirtschaftssoziologe Erik Sparn-Wolf hat diese Entwicklung jüngst am Beispiel der zivilen Luftfahrt wissenschaftlich untersucht. In der im Juli dieses Jahres veröffentlichten Studie mit dem Titel „Verlierer:innen in einer beflügelten Branche“ beschreibt der Autor detailliert, wie sich parallel zum ökonomischen Wachstum in der Luftfahrtindustrie Qualität und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten an den Flughäfen verschlechtert haben. Die Branche ist inzwischen durch einen politisch entfesselten Verdrängungswettbewerb und einen wachsenden Niedriglohnsektor – insbesondere bei den Bodenverkehrsdiensten – geprägt. Der Trend zur Verschlechterung hat sich auch nach der „coronabedingten Zäsur“ nicht umgekehrt, sondern im Gegenteil – die Bedingungen haben sich weiter verschärft. Die aktuellen, vom Personalmangel hervorgerufenen Probleme an den Flughäfen sind daher kein Zufall. Ehemalige Beschäftigte wollen nach Kurzarbeit und Entlassungswellen in Folge der Pandemie nicht mehr zurückkehren. Die Branche ist für viele Beschäftigte inzwischen regelrecht abschreckend geworden, so der Befund der Studie. Eine Analyse, die mit der Situation in der Pflege, im Erziehungsbereich und anderen Branchen mit ähnlich schlechten Arbeitsbedingungen vergleichbar ist.

Um Abhilfe zu schaffen, schlägt der Autor der Studie „effektive wirtschaftspolitische Regulierungen und verbindliche Beschäftigungsstandards“ vor. Wie der Weg dorthin in der Praxis beschritten werden könnte, haben jüngst Beschäftigte in sechs Universitätskliniken in NRW eindrucksvoll aufgezeigt. Nach 77 Tagen Erzwingungsstreik trotzten sie der Unternehmensseite einen Tarifvertrag Entlastung ab. Dieser legt unter anderem das Verhältnis zwischen Pflegekräften und Patienten auf den Stationen in jeder Schicht verbindlich fest. Ob eine solche Bewegung für Entlastung und letztendlich zur Aufwertung der Ware Arbeitskraft auch auf andere Branchen mit ähnlich prekären Arbeitsbedingungen überschwappt und Erfolg hat, hängt maßgeblich davon ab, ob sich die Lohnabhängigen dort organisieren, bereit sind, für ihre Forderungen zu kämpfen und einen ähnlich langen Atem haben wie die Kolleginnen und Kollegen in den Universitätskliniken zwischen Rhein und Ruhr.

Quelle: Unsere Zeit