Ein Gewerkschaftstheoretiker von Schrot und Korn – Zum 100. Todestag Lenins

Vor 100 Jahren, am 21.1.1924, starb Lenin, mit bürgerlichem Namen Wladimir Iljitsch Uljanow, im Alter von 53 Jahren. Untrennbar verbunden mit seinem Denken und Wirken sind die Kämpfe und Orientierung der kommunistischen und revolutionären Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung sowie der nationalen Befreiungsbewegungen. „Lenins Weltruhm“, so Frank Deppe pointiert, „überstrahlte sogar den von Albert Einstein“, der damals „zu einem Star der internationalen Medien avanciert war.“

Fußpunkt Marx

Karl Marx, als Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, begründete aus seiner Analyse des Kapitalismus bekanntlich zugleich die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisierung und des gewerkschaftlichen Kampfes, als „Abwehr der Arbeit“ gegenüber der Profit-Logik und den Wolfsgesetzen des kapitalistischen Systems.

In seiner hierzu gleichsam klassisch verdichteten Passage endet er in seiner Schrift „Lohn, Preis, Profit“: „Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d. h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“

Denn aus den Wolfsgesetzen des Kapitals ergibt sich für die Arbeitenden die Unumgänglichkeit der gewerkschaftlichen Organisierung und des gewerkschaftlichen Kampfes zunächst vor allem a) zur Sicherung bzw. zur Erhöhung der Löhne, wie b) der gesellschaftlichen resp. gesetzlichen Regulierung der Arbeitszeit bzw. ihrer Verkürzung, sowie c) des Ringens um die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen. In dieser kollektiven Interessensvertretung vermögen die Werktätigen die durch den individuellen Arbeitsvertrag (als der rechtlichen Grundform der Beziehung zwischen Kapital und Arbeit) bedingte Vereinzelung und Konkurrenz unter den Arbeitenden aufzuheben. In diesem Sinne haben Gewerkschaften denn auch vorab eine Schutzfunktion. Nur der solidarische, kämpferische Zusammenschluss der Arbeiter kann der „allgemeinen Tendenz“ des Kapitals „den durchschnittlichen Lebensstandard nicht zu heben, sondern zu senken“ entgegenwirken. Eine Klassenauseinandersetzung, die sich in ihrem Verlauf noch um den Kampf um innerbetriebliche ArbeiterInnenrechte erweiterte, nicht zuletzt des demokratischen Rechts auf innerbetriebliche Belegschaftsvertretungen (Betriebsräte).

Der Lohnstreit sowie die Arbeitszeitverhältnisse, oder Anspruch der Arbeitenden auf die Sicherung und Erhöhung ihres Lebensniveaus, sind ihrem Kern nach damit auch vor allem eine Frage der Klassenkräfte- wie gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse insgesamt, der Konfliktbereitschaft der Gewerkschaften und Werktätigen, sowie ihrer Kampfformen. Flankierende Argumente wie ‚Konjunkturlage‘, ‚Stärkung des Binnenkonsums‘ etc. bilden in diesem Zusammenhang sonach auch nur nachgelagerte Zusatzargumente. Den damit benannten Dreh- und Angelpunkt würde Marx der aktuellen gewerkschaftlicher Lohnpolitik in erneuten Hochinflationszeiten und entfesselter geopolitischer Wirtschaftskriegsbedingungen wohl nochmals gesondert ins Stammbuch diktieren.

Gewerkschaften haben für Marx darüber hinaus jedoch auch eine politische Gestaltungsfunktion sowie die revolutionäre Funktion der Aufhebung des kapitalistischen Lohnsystems als solchem. In historischer Perspektive macht Marx die voll entfaltete Funktions-Erfüllung der Gewerkschaften daher auch vom Kampf gegen das kapitalistische Lohnsystem und der „endgültigen Abschaffung des Lohnsystems“ abhängig. Und unter diesem umfassenden Blickwinkel haben für ihn die Selbsttätigkeit der Werktätigen, ihre Arbeits- und Gewerkschaftskämpfe auch die doppelte Bedeutung (in der Sprache des 19. Jh.): einerseits des „unvermeidlichen Kleinkriegs“ zur Behauptung ihre Arbeits- und Lebensinteressen im Kapitalismus und andererseits als eine Art „Kriegsschule“ zur Vorbereitung auf die revolutionäre Überwindung des kapitalistischen Systems. Denn erst in ihrer organisierten Selbsttätigkeit und ihren Kämpfen konstituiert sich die Arbeiterklasse als soziales Subjekt der menschlichen Emanzipation und wird sich ihrer revolutionären Kraft bewusst.

Gewerkschaftstheorie in der Tradition Marx-Lenin

Den gewerkschaftlichen Ausgangspunkt Lenins bildete, wie auch ansonsten, natürlich Marx und insbesondere dessen doppelte Funktionsbestimmung der Gewerkschaften bzw. die doppelte Bedeutung des Arbeitskampfes und der Selbsttätigkeit der Werktätigen: als besagter „unvermeidlicher Kleinkrieg“ zur Behauptung ihrer materiellen Interesse im Kapitalismus sowie als eine Art „Kriegsschule“ zur Vorbereitung des gesellschaftlichen Bruchs mit der Profit-Logik.

Unter dieser Perspektive der voll entfalteten Funktions-Erfüllung der Gewerkschaften, stellte sich Lenin denn auch unnachgiebig gegen die ‚eingeengte‘ Perspektive eines bloßen „Ökonomismus“. Sprich: des nur gewerkschaftlichen „Trade-Unionismus“, einer ausschließlichen „Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen“. Eine derart ‚verengte‘ gewerkschaftliche Orientierung führt unweigerlich in Illusionen, die sozial-ökonomischen Interessen der Arbeitenden im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse verwirklichen zu können, sowie zu einem verkürzten Bewusstsein der Massen. Lenin sah darin eine strukturelle Verkennung der Bedeutung des Politischen und des gesamtgesellschaftlichen Blickfelds überhaupt.

Gleichzeitig verstand er in seinen organisationstheoretischen Analysen die Gewerkschaften als basalste und quantitativ umfassendste Klassen- und Massenorganisation der Arbeitenden. Als sozusagen erster Organisation vieler, bislang noch nicht oder nicht weiter von der Arbeiterbewegung berührten, ArbeiterInnen, die daher naturgemäß auch einen breiteren und heterogeneren Charakter aufweist als etwa revolutionäre Weltanschauungsparteien.

Entsprechend ordnen sich für Lenin – im Rückgriff auf die Pole „Bewußtheit“ und „Spontaneität“ in „Was tun?“ – auch die rein unmittelbaren Erfahrungen in ‚trade-unionistischer‘ Borniertheit dem Pol der „Spontaneität“ zu, und bedarf es dessen Überwindung sowie der politischen und theoretischen Vermittlungskomponente seitens der marxistischen, revolutionären Kräfte als – mit Lenin geredet – den Pol der „Bewußtheit“ verkörpernd.

Denn wirkliches Bewusstsein der eigenen Lage und Einsicht in ihre Kraft als Arbeiterklasse meint mehr als allerbescheidenste Ansätze und Keimformen eigenen Bewusstseins. Es beinhaltet vielmehr Einsichten ins Allerwichtigste und das Begreifen der gesellschaftlichen Gegensätze als (Ausdrucks-)Formen geschichtlicher Widersprüche, die zum Urteilen und Handeln entsprechend den eigenen Interessen befähigen. Also ein adäquates Bewusstsein, in dem sich die Arbeitenden ihrer Stellung in der Gesellschaft, ihrer objektiven Interessen, der Notwendigkeit ihrer Selbständigkeit und Selbsttätigkeit, ihrer Beziehung zu allen anderen Klassen und Schichten der Gesellschaft sowie des Klassencharakters des Staates mehr oder minder deutlich bewusst sind. So ultimativ hierfür natürlich die Einsicht in den unversöhnlichen Gegensatz zu den Interessen der Unternehmen und Kapitalvertreter ist, reicht diesbezüglich die ‚eingeengte Perspektive‘ des „Ökonomismus“ nicht aus – selbst wenn er sich nicht mehr nur gegen einzelne Unternehmer und Branchen richtet, sondern sich bereits der Klasse der Kapitalisten gegenüberstellt. Um daher ein „wahrhaft politisches“, „wirkliches Klassenbewußtsein“ entstehen zu lassen bzw. eine sozialistische Arbeiterbewegung zu entwickeln, so Lenin, ist es unabdingbar „alle Seiten des politischen Lebens“ zu betrachten. Und das beinhaltet für ihn, über das Blickfeld der unmittelbaren ‚trade-unionistischen‘ Erfahrungen hinaus, die Notwendigkeit, Einsichten und Bewusstsein aus dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu schöpfen und zu vermitteln, also zugleich „aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern“. Erst dieses „Gesamtbild“ des kapitalistischen Systems und seiner Zusammenhänge ermöglicht Lenin zufolge ein entsprechendes politisches Klassenbewusstsein. Oder in nochmals abgewandelter Formulierung: „Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen sämtlichen Klassen.“ Und das heißt politisch zugleich, „es verstehen, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen“.

Der humanistisch & internationalistisch neue Gedanke

Mit Marx betrat bekanntlich der radikal neue Gedanke die geschichtliche Bühne: die Arbeitenden sind das soziale Subjekt der menschlichen Emanzipation. Den Unterdrückten wird nicht von oben oder außen abgeholfen werden, sondern sie selbst sind das Subjekt der Umgestaltung. Und finden – als ein weiteres radikal Neues des Marxschen und Leninschen Menschenbilds – in der gewerkschaftlichen und politischen Aktion sowie ihrem Befreiungskampf als soziales Subjekt zu ihrer vollen Würde.

Lenin hat, anknüpfend an Marx, den Gedanken der revolutionären Subjektivität danach in einer objektiv fortgeschritteneren Situation zugleich auf die unterdrückten Völker ausgedehnt und beiden zugerufen: „Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch!“

Gewandelte Verhältnisse und verkomplizierte Bedingungen

Mit der Spaltung der Arbeiterbewegung im 1. Weltkrieg entstanden dann zusätzlich neue Bedingungen und verkomplizierte sich auch die gewerkschaftspolitische Lage nochmals. Von nun an wirkten in den meisten Ländern zwei getrennte Flügel der Arbeiterbewegung in den Gewerkschaften: ein revolutionärer und ein sozialdemokratisch-sozialreformistischer. Zudem warfen, zusätzlich zum ‚Sündenfall‘ der vorhergehenden Unterstützung der imperialistischen Kriegspolitik hinzu, die Verwandlungen der Gewerkschaften zu einem Ordnungsfaktor der neu etablierten bürgerlichen Systeme bereits ihre Schatten voraus. Ja, in den damaligen revolutionären Kämpfen machten die Werktätigen und auf den Sozialismus orientierten Kräfte die eindrückliche Erfahrung des Fallenlassens revolutionärer Rätebewegungen und einer konterrevolutionären Rolle der Gewerkschaftsführung gegen sozialistische Umwälzungsbestrebungen um die kapitalistischen Regime zu retten.

Nichts desto trotz plädierte Lenin in seiner Streitschrift gegen den „Linken Radikalismus“ 1920 dafür, dennoch mit aller Kraft in den Gewerkschaften weiterzuarbeiten und gerade unter den Bedingungen der (partei-)politischen, ideologischen Spaltung der Arbeiterbewegung auf die Verwirklichung einer einheitsgewerkschaftlichen, kämpferischen Interessenspolitik hinzuwirken und die Klassenfunktion der Gewerkschaften wiederherzustellen. Eine Dialektik von Spaltung und Einheit der Arbeiterbewegung, die unter abermals gewandelten Bedingungen und faschistischen Bedrohungen später dann zur Politik der Einheitsfront der Arbeiterklasse fortgeführt wurde. Freilich ohne für solche im Einzelnen je konkret-historisch zu bestimmende Felder einer möglichen Aktionseinheit bzw. sozialen ArbeiterInneneinheit endgültige oder zeitlos allgemeingültige Formen zu ersinnen und festzulegen.

Dies umso mehr, als sich nicht nur der klassenpolitische Charakter, die Rolle und soziale Funktion, der auch die Gewerkschaften meist dominierenden Sozialdemokratie weiter wandelte, sondern die Gewerkschaftsbewegung in Folge zusätzlich ein weit über KommunistInnen und SozialdemokratInnen hinausgehendes Parteien- und Kräftespektrum umfasst bis hin zu konservativen Fraktionen und Ablegern von ‚rechts-außen‘ Parteien.

Vor diesem Hintergrund und der damit einhergegangenen gewerkschaftlichen Entideologisierung sowie der immer stärkeren und vielfach institutionellen Integration der Gewerkschaften in das kapitalistische Ausbeutungs- und Herrschaftssystem, samt dessen neoliberaler Offensive, gewinnt heute allerdings das Erfahrungsmoment aus dem ‚engen‘ Bereich der Beziehungen von Arbeit und Unternehmen bzw. der Sozial- und Arbeitsgesetzgebung, im Verhältnis zu Lenins Lebzeit und den damaligen politischen Konstellationen, an Bedeutung. Ohne damit Lenins prinzipielle theoretische Reflexionen zur Borniertheit des „Trade-Unionismus“ außer Geltung zu setzen. Analoges gilt heute ebenso für die Notwendigkeit einer stärkeren Eigenständigkeit der Gewerkschaften und ihrer autonomen Strategiebildung im Interesse der Arbeitenden.

Unter diesen Bedingungen und der objektiven Aufwertung der beiden genannten Aspekte, geht es gewerkschaftspolitisch und für die revolutionäre Bewegung heute vor allem darum, den ÖGB aus seiner sozialdemokratischen Umklammerung und sozialpartnerschaftlichen Einbindung und Integration herauszubrechen, den korrespondierenden Pragmatismus der bereits von Lenin treffend charakterisierten „Gewerkschaftsbeamten“ zu überwinden und die Gewerkschaften wieder in ein Kampfinstrument der Arbeitenden zu verwandeln.

Und dazu ist es unumgänglich, den von der Gewerkschaftsführung entsorgten theoretischen Begründern der originären Arbeiterbewegung, Marx, Engels und Lenin, wieder ihren angemessenen Platz in der Gewerkschaftsbewegung zu erkämpfen.

Quelle: KOMintern