6. Oktober 2024

»Das Wort ist die einzige erlaubte Waffe«

FARC_EPWir dokumentieren nachstehend die Rede des obersten Comandante der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens – Armee des Volkes (FARC-EP), Timoleón Jiménez, nach der Unterzeichnung des überarbeiteten Friedensvertrages mit der kolumbianischen Regierung am Donnerstag in Bogotá;

Wir Kolumbianer haben mehr als sieben Jahrzehnte Gewalt, ein halbes Jahrhundert offenen Krieg, 33 Jahre Dialogprozesse, ein halbes Jahrzehnt Diskussionen in Havanna, die Enttäuschung vom 2. Oktober und die historisch größte Anstrengung um einen mehrheitlichen Konsens der Nation erlebt, bis wir die Unterzeichnung dieses Endgültigen Abkommens erreichen konnten.

In dieser letzten Etappe haben wir das vorherige Abkommen angereichert und verändert. Dabei haben wir die Unsicherheiten und Vorschläge, Klarstellungen und Einzelfragen berücksichtigt, die die unterschiedlichsten Gruppen und Organisationen der Gesellschaft, Meinungsträger sowie politischen Bewegungen und Parteien eingebracht haben. Wir haben vorbehaltlos und aufmerksam alles studiert, was der Verhandlungsrunde durch die Interessierten vorgelegt wurde, und haben an den vorherigen Texten zahlreiche wichtige Änderungen und substantielle Modifikationen vorgenommen, bis sie endgültig zum Abschlussabkommen wurden.

Die Verhandlungsrunde in Havanna sah sich erneut von der internationalen Gemeinschaft unterstützt, die zutiefst darum besorgt war, dass die Friedensanstrengungen in Kolumbien zu einem guten Schluss gelangen. Die ermutigenden Stimmen der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, der Regierung der Vereinigten Staaten, des Vatikan, der CELAC (Lateinamerikanische und Karibische Staatengemeinschaft) und der begleitenden Länder Venezuela und Chile müssen zu der permanenten Sorgfalt Kubas und Norwegens hinzugefügt werden. Diese Garantieländer haben sich Tag und Nacht für den erfolgreichen Abschluss der Arbeit der Delegationen eingesetzt. Ihnen allen gilt unsere ewige Anerkennung.

Die Architekten dieses Endgültigen Abkommens sind die Frauenorganisationen Kolumbiens, die sich in vielfältiger Weise eingesetzt haben, um den wirklichen Inhalt ihrer Hoffnungen bekanntzumachen. Ebenso können wir dies von der LGTBI-Bewegung (Lesben, Schwule, Transgender, Bi- und Intersexuelle) sagen. Wir haben uns in Havanna mit Delegationen verschiedener christlicher Glaubensrichtigungen, sozialer Bewegungen und verschiedener Parteien getroffen. Zahlreiche Persönlichkeiten der kolumbianischen Politik waren ebenfalls präsent, um ihre Punkte zu dem gemeinsamen Ziel beizutragen, die weisesten Formulierungen zu finden.

Unser Gefühl der Solidarität und Bewunderung gilt den Tausenden Landsleuten, die auf die Straßen und Plätze gegangen sind, um ihre Verurteilung des Krieges und ihre Unterstützung für die Grundlagen des Abschlussabkommens zu demonstrieren und um von den in der Verhandlungsrunde sitzenden Parteien zu fordern, bis zur Unterzeichnung des Endgültigen Abkommens nicht nachzulassen. Er gilt den Jugendlichen und Universitätsstudenten, die eine echte nationale Mobilisierung zur Verteidigung der politischen Lösung erreicht haben und einen Pakt der Jugend für den Frieden mit der Mehrheit der politischen Repräsentationen der verschiedenen Parteien und Bewegungen – einschließlich der Konservativen Partei und des Demokratischen Zentrums – erobert und verbreitet haben.

Den indigenen Gemeinschaften, Bauern und Afrokolumbianern, den Führungspersönlichkeiten der kommunalen und Landbewegungen mit ihrer weitgehenden Friedensarbeit in ihren Gebieten, den Zehntausenden Familien, die sich den FARC bei den Mahnwachen für den Frieden angeschlossen haben, den Persönlichkeiten der katholischen Kirche, der Wissenschaft und der Kunst, den Akademikern verschiedener Universitäten, den in den Städten des Landes gegründeten Plattformen für den Frieden, den Teilnehmern der Schweigemärsche, der Blumenmärsche, den Opfern der Unión Patriótica, den Gründern und Teilnehmern der Friedenscamps, den Aufrufern zu den Friedenskundgebungen in verschiedenen Städten der Welt – Ihnen gehört dieses Abschlussabkommen, denn sie haben mit ihren Hoffnungen und Aktionen seine Schaffung unterstützt.

Das Volk dieses Landes ist der Gewalt, der Intoleranz, der Stigmatisierungen und der Verleumdungen überdrüssig. Es fordert und verlangt eine tiefgreifende Veränderung der politischen Sitten, die Beseitigung von Korruption, Lüge und Betrug. Die erste nationale Forderung ist es, dass der Einsatz von Waffen in der Politik beendet wird, die Garantie des Rechts auf eine abweichende Meinung, auf Opposition, auf den Protest gegen eine schlechte Verwaltung, gegen ungerechte Gesetze, gegen Willkür und gegen den Machtmissbrauch durch Beamte. Die Garantie des Lebens, der persönlichen Unversehrtheit, der Bewegungs- und der Gedankenfreiheit muss Wirklichkeit werden. Deshalb schließt Kolumbien die Reihen um dieses Endgültige Abkommen.

Da es tiefgreifende Diskussionen mit allen Stimmen des Establishments beinhaltete, die aktive Mitglieder der Streitkräfte einbezog und Positionen zu den am meisten auseinanderliegenden Punkten umspannte, waren einzigartige Anstrengungen zu Annäherung notwendig. Niemand wollte außen vor bleiben. Mit diesem Abkommen werden die ideologischen, politischen und Gewissenspositionen nicht beiseite gelegt. Wir beenden lediglich endgültig den Krieg, um künftig in zivilisierter Weise mit unseren Widersprüchen auseinanderzusetzen.

Aus diesem Grund fordern wir seine schnelle und effiziente Umsetzung, um die Verkörperung des demokratischen Zusammenlebens, des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit in unserem Land in Angriff zu nehmen. Keine Morde mehr an Gewerkschafts-, Bauern und Volksführern, an Landforderern, an sozialen Aktivisten und linken Oppositionspolitikern. Keine Drohungen und Feindseligkeiten mehr. Es ist nicht hinnehmbar, dass zu diesem Zeitpunkt weiter Guerilleros der FARC fallen, was mit merkwürdigen Argumenten begründet wird, oder dass Anklagen über Menschenrechtsverletzungen noch immer unser täglich Brot sind, dass sich Gemeinden überall besorgt über Besatzungspläne des Militärs zeigen und sich darüber beschweren, dass entgegen der Vereinbarungen Operationen zur gewaltsamen Zerstörung ihrer landwirtschaftlichen Anbauflächen durchgeführt werden. Das Land wurde überrascht durch die gewaltsame Räumung des Friedenscamps auf der Plaza de Bolívar (in Bogotá) und durch die Untätigkeit der nationalen Regierung angesichts der Morde an Bauernführern und Aktivisten der Marcha Patriótica. Während sie der Nationalen Armee Glückwünsche für Schläge gegen die ELN ausspricht, gibt es keine Solidarität gegenüber den Familien der getöteten Aktivisten der Volksbewegungen und Guerilleros der FARC.

Wir vertrauen darauf, in voller Legalität an den kommenden Diskussionen und an der Politik teilzunehmen. Wir heben hervor, dass die Bildung einer Übergangsregierung für das Land eine wichtige Bedeutung hätte. Deren grundlegendes Ziel wäre die genaue Umsetzung der Abkommen von Havanna, und sie sollte von allen Kräften und Schichten gebildet werden, die ohne Pause für sie gearbeitet haben.

Wir weiten unseren Gruß zu dessen Wahl zum neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten an Donald Trump aus und hoffen, dass seine Regierung eine herausragende Rolle zugunsten des Friedens auf der Welt und auf unserem Kontinent spielen kann. Wir erwarten, dass das oberste Ziel des Friedens in Kolumbien, der entscheidend zur Verständigung in ganz Lateinamerika und in der Karibik beitragen wird, weiter mit der Unterstützung und Duldung durch die neue Regierung in Washington rechnen kann.

Wir bekräftigen unsere Solidarität mit allen Opfern dieses langen Krieges, welcher Seite sie auch immer angehört haben mögen, sowie unsere Bitte um Verzeihung für die Konsequenzen, die unser Handeln für sie bedeutet haben kann. Unseren politischen Gegnern sprechen wir unseren Respekt aus und überreichen ihnen unseren Olivenzweig sowie unsere herzliche Einladung, trotz der Differenzen zusammenzuleben. Es wird unter den Kolumbianern keine Gewalt aus politischen Gründen mehr geben, schon diese Tatsache sollte uns dazu ermutigen, daran zu arbeiten, aus unserem Heimatland ein viel besseres zu machen. Wir halten es für unverzichtbar für das Wohl des Landes, dass das Wort die einzige Waffe ist, deren Benutzung wir Kolumbianer uns erlauben.

Übersetzung: André Scheer, Tageszeitung junge Welt / RedGlobe

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