Das Virus und die Grenzen des Systems

Selten kommen die Gesetzmäßigkeiten des kapitalistischen Systems so deutlich zum Ausdruck wie in Zeiten einer Krise. So war es vor rund elf Jahren, als mit Kursstürzen und Bankenpleiten in New York die große Finanzkrise begann, in deren Folge sich eine umfassende Wirtschaftskrise entwickelte, die trotz aller Hurra-Meldungen bis heute nicht überwunden ist.

So ist es auch heute angesichts der Coronavirus-Krise, die noch dazu mit ohnehin starken Erschütterungen der kapitalistischen Wirtschaft, also mit deutlichen Anzeichen eines neuen Aufschwungs der Wirtschaftskrise zusammenfällt.

In diesen Momenten werden die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Funktionierens dieser Gesellschaft wesentlich weniger kaschiert. Das Grundgesetz des Kapitalismus besagt, in einfachen Worten formuliert, daß ein Kapitalist nichts unternimmt, wenn er sich davon nicht einen angemessenen Profit versprechen kann. Nach diesem Prinzip funktionieren Banken, Konzerne, ganze Staaten und auch die Europäische Union als multinationale Vertreterin der Interessen der Banken und Konzerne.

Deutlich wird das an den Reaktionen und an den Entscheidungen im Zusammenhang mit der aktuell grassierenden Coronavirus-Krise. Ursula von der Leyen, Chefin der EU-Kommission und in dieser Position oberste Verwalterin der Konzerninteressen der EU-Staaten, beklagt sich über Alleingänge von Mitgliedstaaten beim Versuch der Bewältigung der Krise. Konkret geht es um die Bemühungen einzelner Staaten, sich in den Besitz von Präventionsmitteln wie Atemschutzmasken und Schutzanzügen zu bringen und Exportbeschränkungen zu verhängen. »Der gemeinsame Markt muss funktionieren«, sagte die EU-Chefin am Freitag. Na klar, immerhin geht es um eine der Grundfesten der EU, den freien Warenverkehr.

Nur gut für Frau von der Leyen, daß das Recht auf Leben oder das Recht auf angemessene Gesundheitsfürsorge nicht zu den Prioritäten der EU gehören, denn daraus läßt sich kein Profit machen. Ganz nebenbei sprach sie zwar von der Notwendigkeit, Gesundheitschecks durchzuführen, aber dazu wolle die EU-Kommission demnächst »Leitlinien« vorlegen.

In so gut wie allen Meldungen über Maßnahmen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Krise ist die Rede von der Unterstützung für Unternehmen, über Kredite für Banken, Hilfe bei der Bezahlung von Kurzarbeit… – die EU ist dafür sogar bereit, die ansonsten ehernen Fiskalregeln auszusetzen. Über Maßnahmen, die wirklich zum Kampf gegen das Virus und dessen Ausbreitung führen könnten, ist so gut wie nichts zu lesen. Das ist der gewöhnliche Kapitalismus, es geht immer um den Profit, und nicht um den Menschen, sein Leben und seine Gesundheit.

In Ländern, in denen das Grundgesetz des Kapitalismus nicht oder nur eingeschränkt gilt, sieht das etwas anders aus. In China zum Beispiel war es durch drastische Maßnahmen und durch Aufbietung großer Kraftanstrengungen ohne Rücksicht auf Gewinn oder Verlust in Unternehmensbilanzen möglich, die Verbreitung des Virus fast vollständig zurückzudrängen. Aus Vietnam ist zu hören, daß dort der Ausbruch der Krankheit vollständig eingedämmt werden konnte. Und in Cuba wurde nicht nur ein Medikament entwickelt, das die Krankheit bekämpft, sondern es wurden auch große Reserven mobilisiert, um bei ersten Krankheitsfällen sofort handeln zu können. Überflüssig zu erwähnen, daß sich dort auch niemand über die Kosten eines Arztbesuches oder einer Behandlung Gedanken machen muß.

Das Problem besteht allerdings darin, daß China, Vietnam oder Cuba nicht als Beispiel für uns dienen können, denn das würde die Grenzen dieses kapitalistischen Systems sprengen. Allerdings wäre das zumindest eine Überlegung wert…

Uli Brockmeyer

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek