Gefährliche Spielchen

Die Berichterstattung über die Ereignisse in und um Belarus birgt in sich die Gefahr eines Zündelns, dessen Ausmaße bisher nicht abzusehen sind.

In den Medien ist weiterhin permanent die Rede von Wahlfälschung. Obwohl die Wahl nun bereits zwei Wochen zurückliegt, ist es bisher nicht gelungen, Belege dafür vorzulegen. Für die Unterstützer und Sponsoren der belarussischen Opposition genügt allein die Behauptung, daß die Kandidatin Tichanowskaja die Wahl mit »mindestens 80 Prozent der Stimmen« gewonnen habe. Auch wenn wenige Tage danach der Wert mit 70 Prozent angegeben wurde, ist das immer noch meilenweit von einer Annahme auf realistischer Grundlage entfernt.

Daß die Regierungen der EU-Staaten einen Wahlsieg des Amtsinhabers Lukaschenko unbedingt verhindern wollten, ist seit Jahren bekannt. Dementsprechend war auch schon von »Wahlfälschung« die Rede, bevor der Urnengang begonnen hatte. Daß man dem Mann aber außer seiner ungewöhnlich langen Amtszeit kaum eine tatsächlich verurteilenswerte Missetat vorwerfen kann, spielt dabei keine Rolle.

Es geht auch nicht vordergründig um Herrn Lukaschenko, sondern um das, was er repräsentiert: einen Staat, in dem es gelungen ist, faktisch die gesamte Wirtschaft unter staatlicher Kontrolle zu behalten und somit einen totalen Ausverkauf wie in den anderen ehemals sozialistischen Ländern zu verhindern. Folgerichtig will die Opposition in erster Linie eine Freigabe des Eigentums an den Produktionsmitteln zum Verscherbeln an ausländische Unternehmen und Spekulanten. Zudem sind sich die Opposition und der »freie Westen« einig, daß das Land unbedingt der NATO und der EU beitrete müsse.

Folgerichtig ist, daß die »Anführer der EU«, an die Frau Tichanowskaja sich flehentlich um Hilfe gewandt hatte, nicht nur das Wahlergebnis nicht anerkennen, sondern flugs auch etliche Millionen aus unseren Steuergeldern locker gemacht haben für einen »Regime Change« in Belarus. Geld floß auch schon vorher in Strömen aus dem Westen in Richtung Minsk, allerdings bisher ohne greifbare Resultate. Um der Sache eine Struktur zu geben, wurde mit westlicher Hilfe ein »Koordinierungsrat« der Opposition geschaffen, der zwei wesentliche Aufgaben hat. Einerseits soll er aus den unterschiedlichen Gruppierungen von Intellektuellen und professionellen Regimegegnern erst einmal eine »richtige« Opposition formieren, und zweitens soll er das Geld aus dem Westen verwalten und verteilen.

Ein »Koordinierungsrat für die Machtübergabe« will und kann keinen Dialog mit dem Präsidenten oder der Regierung herbeiführen, das ist schon in seinem Namen begründet. Es geht nicht um einen Dialog, sondern um ein Ultimatum, eine bedingungslose Kapitulation – ein anderes Ergebnis ist nicht vorgesehen. Das allerdings würde das Land in ein nicht überschaubares Chaos stürzen, denn dieser »Rat« ist weit davon entfernt, regierungsfähig zu sein.

Aufrufe zu Streiks haben bisher kaum Wirkung gezeigt, Aufrufe an Militärs, für Bezahlung die Seiten zu wechseln, ebenso wenig. Als am Sonntag in Minsk Zehntausende – keineswegs »Hunderttausende« (!) – gegen Lukaschenko auf die Straße gingen, blieben die im Westen erhofften Zusammenstöße mit der Polizei aus. Wenn in den Medien gleichzeitig nur am Rande erwähnt oder völlig verschwiegen wird, daß in allen Städten des Landes Zehntausende für Lukaschenko und für Belarus auf die Straße gingen, ist das nicht nur bewußte Ignoranz, sondern auch eine gefährliche Fehleinschätzung der Realitäten.

Uli Brockmeyer

Quelle:

Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek