Trotz alledem!

Polizei gegen Demonstranten in Berlin. Foto: Guillermo Zaidan
Polizei gegen Demonstranten in Berlin. Foto: Guillermo Zaidan

Keine Nachrichten sind auch eine Nachricht. Es ist bezeichnend, wenn weder die Deutsche Presseagentur noch die Nachrichtensendung im staatlichen deutschen Fernsehen es für nötig halten, über Gewaltexzesse der deutschen Polizei gegen friedliche Demonstranten in der Hauptstadt Berlin zu berichten. Jegliches Aufbegehren gegen den russischen Präsidenten, Ansammlungen von rechten Oppositionellen in Venezuela oder Spaziergänge von Damen in Weiß in Havanna sind den Agenturen und Sendern des medialen Mainstream viele Zeilen und Sendeminuten wert. Wenn aber junge Antifaschisten in Berlin zusammengeschlagen und unter brutaler Gewaltanwendung festgenommen werden, dann schweigen diese Medien.

Der Grund dafür hat viel mit der deutschen Geschichte zu tun, und zwar mit jener Geschichte, die in den Geschichtsbüchern entweder gar nicht oder nur unter Verdrehung wesentlicher Tatsachen dargestellt wird. Nachdem in Deutschland im November 1918 das deutsche Kaiserregime durch einen Aufstand von revolutionären Arbeitern und Soldaten gestürzt worden war, gelang es der deutschen Sozialdemokratie nur mit großer Mühe und der Hilfe reaktionärer Militärs, die Bildung einer sozialistischen deutschen Republik zu verhindern – einer Republik, die der Kommunist Karl Liebknecht am 9. November vom Balkon des Berliner Schlosses ausgerufen hatte. Der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen.

Unter Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurde am Jahreswechsel 1918/19 die Kommunistische Partei Deutschlands gegründet, die sich anschickte, die politischen Fehler der Sozialdemokratie zu überwinden und die Führung des Kampfes um die Beendigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu übernehmen. Mit vollem Recht befürchtete die immer noch herrschende Klasse um ihre Privilegien, eine Entwicklung wie in Rußland seit Oktober 1917 mußte unbedingt verhindert werden. Der Kampf gegen die Kommunisten begann unverzüglich. »Schlagt ihre Führer tot!« stand auf Plakaten, »Tötet Liebknecht und Luxemburg!«

Die beiden bekanntesten Persönlichkeiten der KPD wurden von reaktionären Freischärlern am 15. Januar 1919 ergriffen und brutal ermordet. Das Ziel, die kommunistische Partei, die Bewegung für eine sozialistische Gesellschaft aufzuhalten, gelang ihnen nicht. Seit dem Januar 1920 ziehen Jahr für Jahr Tausende in einem Gedenkmarsch durch Berlin, vom Zentrum hinaus zum Friedhof in Friedrichfelde, zu den Gräbern von Liebknecht und Luxemburg, später auch zu den Grabstellen vieler anderer Kommunisten, Sozialisten und Antifaschisten.

Seit dem Ende der DDR wird der Gedenkmarsch stets von der Polizei begleitet. In diesem Jahr war das Polizeiaufgebot deutlich größer, provokativer, aggressiver. Während man in Berlin »Querdenker« und Nazis, auch mit der geächteten »Reichskriegsflagge« ungehindert in Richtung Zentrum marschieren und sogar den Sitz des deutschen Parlaments stürmen läßt, störte man sich nun an den Fahnen der 1946 gegründeten Freien Deutschen Jugend, in der Bundesrepublik bereits 1951 verboten, in der DDR bis 1990 die größte Jugendorganisation. Doch nicht nur blaue Fahnen mit der aufgehenden Sonne waren das Ziel der Angriffe der Polizei, auch antifaschistische Transparente und rote Fahnen.

Der Gedenkmarsch der Tausenden fand dennoch statt. Karl Liebknecht schrieb nach der Niederlage der deutschen Revolution in einem Leitartikel: »Leben wird unser Programm. Trotz alledem!«.

Uli Brockmeyer

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek – Unser Leitartikel: <br/>Trotz alledem!