50 Jahre Putsch in Chile – Interview mit Irene Filip

Heute vor 50 Jahren, am 11. September 1973 putschte das Militär in Chile gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Bis 1989 herrschte Augusto Pinochet als Diktator über das Land. Zehntausende wurden ermordet, in Konzentrationslagern und Folterzentren inhaftiert oder mussten ins Exil gehen. Die sozialen Fortschritte wurden rückgängig gemacht und das Land zum Versuchslabor des Neoliberalismus gemacht.
Anlässlich des 50. Jahrestags des Putsches sprach KPÖ-Bildungsreferent Martin Konecny mit Irene Filip. Sie ist langjähriges KPÖ-Mitglied und war in der Solidaritätsbewegung mit Chile aktiv, sie hat das Land seit Mitte der 80er Jahre vielfach bereist.

Martin Konecny: Lass uns mit einer persönlichen Frage beginnen. Woher kommt deine Verbindung zu Chile?

Irene Filip: Begonnen hat es natürlich mit meinem Interesse für die Regierung der Unidad Popular unter Präsident Salvador Allende, die 1970 ins Amt gewählt wurde. Die Unidad Popular war der Zusammenschluss von Chilenischen Linksparteien, vor allem der Sozialistischen Partei und der Kommunistischen Partei Chiles und einiger kleinerer Parteien. Mein Interesse setzte sich fort über das Weltjugendfestival 1973 in Berlin, bei dem die damalige Vorsitzende der kommunistischen Jugend Gladys Marin bereits auf die Sabotageakte und die damit verbundenen Schwierigkeiten der Unidad Popular hinwies. Nach dem Putsch habe ich mich an unzähligen Demonstrationen über die Jahre beteiligt. Persönlich sehr wichtig war für mich der Kontakt mit den politischen Flüchtlingen, die nach 1973 nach Österreich gekommen sind. Ich habe viel Zeit mit ihnen im Flüchtlingslager Hinterbrühl verbracht. Da sind wichtige persönliche Beziehungen entstanden. Meine beste Freundin, eine Chilenin die damals nach Österreich gekommen ist, habe ich dort kennengelernt. 

MK: Kannst du die politische Situation damals, Anfang der 70er beschreiben, was hat der Sieg der Unidad Popular und von Allende bedeutet?

IF: Die späten 1960er und frühen 1970er Jahre waren eine Zeit des politischen Aufbruchs in Lateinamerika, aber auch weltweit. In Chile wurde Salvador Allende zum Präsidenten gewählt, in Nicaragua kämpften die Sandinistas gegen die Diktatur von Somoza, in Guatemala die Guerilla URNG für das Ende der Unterdrückung. Überall in Lateinamerika schien es damals so, als ob eine alternative Entwicklung und ein Ende der US-Dominanz über den Kontinent möglich wäre. Für die Linke und die fortschrittlichen Kräfte, nicht nur in Österreich, war die internationale Solidarität mit Lateinamerika damals ein ganz wesentlicher Bezugspunkt.

MK: Und was hat sich in Chile mit Salvador Allende konkret verändert?

IF: Es gab massive Verbesserungen für die breite Mehrheit der Menschen. Die Kindersterblichkeit ging zum Beispiel drastisch zurück, nachdem jedes Schulkind kostenlos einen halben Liter Milch erhielt. Der Zugang zum Gesundheitssystem wurde ausgebaut. Es wurde damit begonnen das Land, das bisher überwiegend in der Hand von Großgrundbesitzern war gerecht zu verteilen. Chile ist sehr reich an Bodenschätzen, doch der Reichtum landete großteils bei den US-Amerikanischen Konzernen, denen die Minen bis dahin gehörten. Die Unidad Popular überführte die Kupferminen dann in öffentliches Eigentum.

MK: Und wie reagierten die wirtschaftlichen Eliten und die USA?

IF: Die haben die Regierung Allende von Anfang an bekämpft. Sowohl rechte Parteien als auch die USA haben die Regierung bekämpft. Noch vor dem Putsch haben sie auf Terror und Sabotage gesetzt. Im Oktober 1972 blockierten reaktionäre Spediteure mit Finanzierung der USA das Land – wer Chile schon mal auf der Landkarte gesehen hat, weiß wie leicht das geht. Im Land kam es zu einer Versorgungskrise, aber die chilenischen Arbeiter und Arbeiterinnen hielten zu ihrer Regierung. Noch im März 1973 konnten die Parteien der Unidad Popular bei den Parlamentswahlen kräftig zulegen. 

MK: Und wie kam es dann zum Putsch am 11. September 1973?

IF: Nachdem es der Rechten und den USA nicht gelang Allende auf andere Weise zu stürzen, putschte das Militär unter der Führung von Augusto Pinochet. Am Morgen des 11. Septembers ließ das Militär über den Rundfunk eine Ansprache verlesen und stellte Allende ein Ultimatum. Salvador Allende weigerte sich zurückzutreten. Daraufhin bombardierte die Luftwaffe den Präsidentenpalast La Moneda. Über den letzten freien Radiosender, das „Radio Magallanes“, wandte sich Allende in seiner berühmten  letzten Rede an die Chilenen und Chileninnen. Während man im Hintergrund die einschlagenden Bomben hörte, schloss Allende seine Rede mit den Worten: „In diesen düsteren und bitteren Augenblicken, in denen sich der Verrat durchsetzt, seid euch sicher, dass sich eher früher als später wieder breite Alleen öffnen werden, durch die freie Menschen gehen werden, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Es lebe Chile! Es lebe das Volk! Es leben die Arbeiter! Dies sind meine letzten Worte, und ich bin sicher, dass mein Opfer nicht vergeblich sein wird.“

Wenig später beging Allende Suizid. 

Am 11. September und in den Tagen danach wurden Mitglieder der linken Parteien verhaftet. Tausende wurden unmittelbar nach dem Putsch im Nationalstadion von Santiago de Chile zusammengepfercht, gefoltert und ermordet. Auch danach gingen die Verhaftungen, Folterungen und Ermordungen weiter. Abertausende flüchteten vor der Repression. 

Besetzung Chilenische Botschaft 1983

MK: Wie habt ihr damals darauf in Österreich reagiert?

IF: Es wurden sofort Demonstrationen organisiert – weltweit, nicht nur in Österreich. In Österreich wurde dann sehr rasch auf Initiative von Herbert Berger die „Chile Solidaritätsfront“ gegründet. Beteiligt daran waren alle demokratischen und antifaschistischen Kräfte, die Kommunistische Jugend, die Sozialistische Jugend, der VSSTÖ, die Katholische Arbeiterjugend, Christ:innen und viele mehr.

In den Jahren danach gab es unzählige Demonstrationen und Veranstaltungen. Oft kamen auch chilenische Politiker:innen nach Österreich. Ich kann mich etwa gut an Besuche von Hortensia Bussi de Allende, der Witwe von Salvador Allende, Luis Corvalán, den Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles erinnern, an Estela Ortíz deren Mann ebenso wie der der Menschenrechtsanwältin Carmen Hertz ermordet wurde. Carmen Hertz ist heute Abgeordnete für die kommunistische Partei im chilenischen Kongress. 

Natürlich gab es auch praktische Solidarität. Wir haben uns um die politischen Flüchtlinge gekümmert. Insgesamt kamen knapp 2000 Chilen:innen in den Jahren nach dem Putsch nach Österreich. Es gab ein eigenes Solidaritätskomitee mit den Mapuche, der größten indigenen Gruppe in Chile. Wir haben Spenden für CINTRAS, eine Organisation die Folteropfer und deren Angehörige psychotherapeutisch betreut, gesammelt. Ab den 1980er Jahren haben wir auch den bewaffneten Widerstand, die Frente Patriótico Manuel Rodríguez unterstützt. Sie wurde 1983 gegründet und verübte unter anderem 1986 das gescheiterte Attentat auf Pinochet.

Mitte der 1980er bin ich auch die ersten Male selbst nach Chile gereist, so etwa auch 1988 kurz vor dem Ende der Diktatur zum Kulturfestival Chile Crea, an dem Schriftsteller:innen und Intellektuelle, vor allem auch aus Europa teilnahmen, wie der katalanische Autor Vázquez Montalbán oder der Uruguayer Eduardo Galeano und der damalige französische Kulturminister Jack Lang. In der Vorbereitung  hatten wir Unterstützungserklärungen von Kulturschaffenden dafür auch in Österreich gesammelt. So auch bei der Mauthausen-Befreiungsfeier von Mikis Theodorakis, Maria Farantouri und Gisela May.

Solidaritätsdemo 1974

MK: Wie hat die Diktatur in Chile dann geendet?

IF: Am 5. Oktober 1988 verlor Pinochet eine von ihm angesetzte Volksabstimmung über die Verlängerung seiner Amtszeit. Am 14. Dezember 1989 fanden dann die ersten demokratischen Wahlen statt, aus denen der Christdemokrat Patricio Aylwin als Sieger hervorging. Die Siegesfeier am nächsten Tag war eine mächtige Demonstration aller demokratischen Kräfte und ist für mich immer noch ein sehr bewegendes Erlebnis.

Chile, Wahlkampf 1989

MK: Wie hast du Chile damals in letzten Jahren der Diktatur kennengelernt?

IF: Ich habe damals begonnen zu verstehen, was es bedeutet illegale politische Arbeit zu machen. Bei den ersten freien Wahlen 1989 habe ich auch die Wahlkämpfe von linken Kandidat:innen begleitet und das Land so aus erster Hand kennengelernt. Ab Anfang der 1990er war ich für vier Monate in Chile und hatte die Möglichkeit in der internationalen Kommission der Kommunistischen Chiles mitzuarbeiten. Aufgrund des Kontakts und der Zusammenarbeit mit Mireya Baltra, der ehemaligen Arbeitsministerin in der Regierung der Unidad Popular, konnte auch die erste Frauenkonferenz der Kommunistischen Partei Chiles organisiert werden.

Die Spuren, die die Diktatur hinterlassen hat, sind tief. Es gibt kaum eine linke Familie, in der nicht jemand verschwunden, gefoltert oder ermordet worden ist, bzw. ins Exil gehen musste.

Aber auch nach 1989 war die Repression nicht zu Ende. Noch bis Mitte der 1990er gab es viele politische Gefangene, vor allem jene, die bewaffneten Widerstandsgruppen angehörten. Die kamen erst sehr spät frei. Aber immerhin war es dann möglich sie im Gefängnis zu besuchen. So konnte ich die Mitglieder der Frente Patriótico Manuel Rodríguez Sergio Buschmann und Belinda Zubicueta in der Haft aufsuchen. 

Besuch PCC-Generalsekretär Corvalan 1982 in Wien

MK: Und wie hat sich der Umgang mit den Tätern und Opfern entwickelt?

IF: Es hat sehr lange gedauert, bis die Opfer überhaupt anerkannt wurden. Organisationen wie CINTRAS hatten keine staatliche Unterstützung für ihre wichtige Arbeit. Auch Entschädigungen wurden erst sehr spät ausbezahlt. Aber es entwickelt sich zunehmend eine Erinnerungskultur, mit Gedenkstätten, Denkmälern und Veranstaltungen.

MK: Und die Täter…

IF: Die Verfahren gegen die Täter sind längst noch nicht abgeschlossen und dauern noch immer an. Die Diktatur hat sich beim Übergang zur Demokratie natürlich abgesichert. Ein gutes Beispiel ist der Liedermacher und Musiker Victor Jara. Seine Lieder haben uns durch all die Jahre begleitet. Er wurde nur wenige Tage nach dem Putsch im Nationalstadion von Santiago de Chile ermordet, vorher hatte  man ihm noch seine Finger gebrochen, damit er nicht mehr Gitarre spielen konnte. Die Täter sind erst Ende August dieses Jahres endgültig verurteilt worden. 

MK: Und wirtschaftlich und sozial, was hat die Diktatur da angerichtet und was bleibt heute noch davon?

IF: Ja, das ist die andere Dimension. Pinochet hat Chile in das erste Versuchslabor des Neoliberalismus verwandelt. Er holte sich die sogenannten „Chicago Boys“, Schüler des neoliberalen Wirtschaftswissenschafter Milton Friedman ins Land und baute das Land radikal um. Alle fortschrittlichen Maßnahmen wurde zurückgenommen, die Wirtschaft liberalisiert und privatisiert. Nicht nur die Industrien, sondern auch die Gesundheitsversorgung, das Pensionssystem und das Bildungswesen. Chile gilt heute als eines der ungleichsten Länder der Welt. Die Auswirkungen des Neoliberalismus haben bis heute bestand.

MK: Aber das beginnt sich gerade zu ändern, oder?

IF: 2019 gab es einen großen Volksaufstand, ausgelöst durch höhere Ticketpreise bei den öffentlichen Verkehrsmitteln, die Wut über die Ungleichheit hat sich entladen. Aber der Weg ist schwierig. Der Versuch die Verfassung, die ja noch aus der Zeit der Diktatur stammt, neu zu schreiben, ist vorerst gescheitert. Aber dennoch gibt es seit 2022 mit Gabriel Boric erstmals einen Präsidenten der von einem Linksbündnis, einschließlich der Kommunistischen Partei Chiles, unterstützt wird. Doch es ist schwer, die Regierung, der auch Kommunist:innen angehören, verfügt über keine Mehrheit im Parlament und kann so nicht alle Vorhaben umsetzen.

Trotzdem verändert sich einiges. Am 29. August verstarb der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Guillermo Teillier, der selbst 1974 für zwei Jahre verhaftet wurde und danach all die Jahre der Diktatur illegal im Untergrund tätig war und wesentlich zur Bildung des Linksbündnisses zur Präsidentenwahl beigetragen hat. Präsident Boric ordnete daraufhin eine zweitägige Staatstrauer an und stand auch selbst Ehrenwache an seinem Sarg. Das wäre früher undenkbar gewesen. Die Rechten schäumten auch entsprechend, denn Teillier war in den 1980ern verantwortlich für den militärischen Apparat der Kommunistischen Partei und damit Verbindungsglied zur Frente Patriótico Manuel Rodríguez, die das Attentat auf Pinochet durchgeführt hatte.

Aber es ist gut, dass ihm Boric und der Staat die Ehre erweisen, denn es gibt ein Recht auf bewaffneten Widerstand gegen eine Diktatur. 

Quelle: KPÖ – Kommunistische Partei Österreichs