Über 150 Organisationen protestieren gegen sozialrechtliche Verschärfungen für Geflüchtete und machen deutlich: Die Menschenwürde gilt für alle!

Vor 30 Jahren – am 1. November 1993 – trat das Asylbewerberleistungsgesetz in Kraft. Zum traurigen Jubiläum kritisiert ein Bündnis von 154 Organisationen auf Bundes‑, Landes- und kommunaler Ebene die aktuell besonders heftige Debatte über immer weitere Einschränkungen bei Sozialleistungen für Geflüchtete. Die Forderungen des Appells lauten: Das Asylbewerberleistungsgesetz muss abgeschafft werden! Die Betroffenen müssen in das reguläre Sozialleistungssystem eingegliedert werden.

30 Jahre lang Diskriminierung, Entmündigung und Kürzungen am Existenzminimum Geflüchteter – das ist die Bilanz, die PRO ASYL und Wohlfahrtsverbände, medizinische Organisationen, Menschenrechtsorganisationen und Antidiskriminierungsvereine ziehen. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: „Mit Bestürzung verfolgen wir die aktuelle politische Debatte über Asylsuchende, die zunehmend von sachfremden und menschenfeindlichen Forderungen dominiert wird. Die Diskussionen über Sozialleistungen sind dafür ein gutes Beispiel. Die im Raum stehenden Forderungen reichen von einer generellen Umstellung von Geld- auf Sachleistungen über diskriminierende Bezahlkarten und eine Kürzung des Existenzminimums bis hin zur Forderung, dass kranken Menschen eine medizinische Grundversorgung vorenthalten werden soll“, heißt es in dem heute veröffentlichten Appell.

„Die für alle geltende Menschenwürde scheint in der öffentlichen Debatte kaum noch etwas zu zählen, das ist mehr als erschreckend. Jeder Mensch hat Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Sachleistungen oder Kürzungen am Existenzminimum Geflüchteter sind auch ein Angriff auf unseren demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Schon die jetzige Ausgestaltung des Asylbewerberleistungsgesetzes ist verfassungsrechtlich unhaltbar und noch weitere diskriminierende Leistungskürzungen sind es erst recht. Politische Forderungen müssen sich wieder am Grundgesetz orientieren“, sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.

Sachleistungen sind diskriminierend, teuer und verfassungsrechtlich mindestens fragwürdig. Das gilt auch für die von einigen Bundesländern und Politiker*innen geforderte und zum Teil schon geplante Bezahlkarte, die die Verfügungsmöglichkeit über Bargeld einschränken soll. „Heute werden wie schon vor 30 Jahren Geflüchtete zum Sündenbock gesellschaftlicher Probleme gemacht. Aber Wohnungsnot, Lehrer*innenmangel und eine desolate Infrastruktur sind ein Ergebnis jahrelanger struktureller Fehler in der Politik. Derlei Probleme dürfen nicht Geflüchteten angelastet werden. Deshalb muss das Asylbewerberleistungsgesetz ersatzlos gestrichen werden“, sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.

Denn die gesellschaftliche Stimmung war 1992/1993, als das Asylbewerberleistungsgesetz im Zuge der Beschneidung des Grundrechts auf Asyl beschlossen wurde, ähnlich wie heute: Auch damals wurden gestiegene Asylantragszahlen zum Anlass genommen für eine explosive flüchtlingsfeindliche Stimmungsmache. Das Asylbewerberleistungsgesetz war von Anfang an dazu gedacht, über Leistungseinschränkungen und schlechte soziale Bedingungen Menschen von der Flucht nach Deutschland abzuhalten. Dieser Grundgedanke wird auch in den neuen Vorschlägen von Finanzminister Lindner und Justizminister Buschmann zu Leistungskürzungen deutlich.

Doch das funktioniert nicht, wie es auch in dem von 154 Organisationen unterstützen Appell heißt: „Kein Mensch, der aus einem Krieg oder vor politischer Verfolgung flieht, gibt die Flucht auf, weil er oder sie in Deutschland demnächst mit noch mehr Sachleistungen leben muss. Wenn in diesem Jahr 2023 das Bundesamt in über 70 Prozent aller Asylanträge, die bis September inhaltlich entschieden wurden, einen Schutzstatus feststellt, wird nur allzu deutlich, dass die Menschen nicht wegen der Sozialleistungen kommen, sondern hier Schutz suchen.“

Ziel muss sein, den Leistungsberechtigten ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Das sieht auch das Bundesverfassungsgericht so und hat Kürzungen des sozialen Existenzminimums „aus migrationspolitischen Gründen“, also aus Gründen der Abschreckung, in einem wegweisenden Urteil bereits 2012 als unzulässig erklärt.

Zum Hintergrund:

Seit 1992/93 haben Fachorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Kirchen und zivilgesellschaftliche Organisationen das Asylbewerberleistungsgesetz einhellig abgelehnt und immer wieder seine Abschaffung gefordert. Mehrfach hat das Bundesverfassungsgericht Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes für verfassungswidrig erklärt.

Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag 2021 angekündigt, das Asylbewerberleistungsgesetz „im Lichte des Bundesverfassungsgerichts“ zu überarbeiten. Dies ist bislang nicht geschehen – und wäre der überwältigenden Zahl der einschlägig kompetenten Organisationen und Zivilgesellschaft auch zu wenig: Einen bereits Anfang des Jahres 2023 veröffentlichter Appell fand bis Mitte des Jahres über 200 unterstützende Organisationen, die damit die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und sozialrechtliche Gleichbehandlung fordern.

Mehr Informationen finden Sie auch in diesem Text auf der Homepage von PRO ASYL: Im Auftrag Diskriminierung. Eine kleine Geschichte von Schikanen durch das AsylbLG.

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Quelle: Pro Asyl