Seit 111 Jahren dieselbe Fehlermeldung
Übernommen von Yeni Hayat / Neues Leben:
Paul Otto
Der 2. August 1914 vor 111 Jahren sollte in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingehen. An diesem Tag hat die nationale Konferenz der Vorstände der Freien Gewerkschaften Deutschlands, auf Empfehlung ihrer Generalkommission vor dem Kaiser kapituliert. Im Rahmen eines sogenannten „Burgfriedens“ beschließt die Vorläuferorganisation des DGB, alle laufenden Lohnauseinandersetzungen und Streiks abzubrechen. Am Tag zuvor erklärt das Deutsche Reich gegenüber Russland den Krieg.
Die „Burgfriedenspolitik“ angesichts von Militarisierung, Aufrüstung und Krieg ist seit 111 Jahren ein ständig wiederkehrender systemischer Fehler der Gewerkschaften und maßgeblicher Akteure in der Arbeiterbewegung. 1914 ist der „Burgfrieden“ seitens der Gewerkschaftsbürokratie als Eintrittskarte für die staatliche Anerkennung ihrer Legalität und die Einbindung in die staatlichen Strukturen gedacht. Nach den ersten Kriegsmonaten steht am 2. Januar 1915 in der gewerkschaftlichen Wochenzeitschrift Correspondenzblatt zu lesen: „Die Gewerkschaften haben die Arbeitsvermittelung für Erntearbeiten und Befestigungsarbeiten schaffen helfen, sie haben den Kriegerfamilien die erste Hilfe gespendet, bis der gemeindliche (kommunale) und staatliche Apparat sicher wirkte, sie waren unermüdlich in der Durchsetzung öffentlicher Maßnahmen, den Verkehr von seinen militärischen Schranken zu befreien, Arbeitsgelegenheit zu schaffen und die Produktion zu heben.“
Mitbestimmung statt Arbeiterpolitik
Am 5. Dezember 1916 ist die Gewerkschaftsbürokratie am Ziel. Aufgrund fehlenden Nachschubs an der Front und eines gravierenden Munitionsmangels wird mit dem Gesetz zum Vaterländischen Hilfsdienst die Integration der Gewerkschaften in das Management der Kriegswirtschaft und in staatliche Strukturen beschlossen. Es folgt die Einbindung der Gewerkschaften in die Organisation und Überwachung der nun verbindlichen allgemeinen Arbeitspflicht für alle nicht kriegsdienstfähigen Männer. Sie dürfen Vertreter in die dafür zuständigen staatlichen Ausschüsse und in die für Beschwerden zuständige Zentralstelle des Kriegsamtes entsenden. Zudem werden Arbeiterausschüsse in Betrieben mit mindestens 50 Beschäftigten gewählt.
Paragraph 12 des Gesetzes über den Vaterländischen Hilfsdienst „Dem Arbeiterausschusse liegt ob, das gute Einvernehmen innerhalb der Arbeiterschaft des Betriebs und zwischen der Arbeiterschaft und dem Arbeitgeber zu fördern. Er hat Anträge, Wünsche und Beschwerden der Arbeiterschaft, die sich auf die Betriebseinrichtungen, die Lohn- und sonstigen Arbeitsverhältnisse des Betriebs und seiner Wohlfahrtseinrichtungen beziehen, zur Kenntnis des Unternehmers zu bringen und sich darüber zu äußern.“
Die Ähnlichkeiten mit dem aktuell gültigen Betriebsverfassungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der gesetzlichen Verpflichtung gewählter Betriebsräte zur vertrauensvollen sozialpartnerschaftlichen Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung sind nicht zu übersehen.
Standortlogik statt Arbeiterpolitik
Auch heute zieht es die Gewerkschaftsbürokratie vor, Industriepolitik zu machen anstatt Arbeiterinteressen zu vertreten. Im Mai-Aufruf 2025 des DGB heißt es „Es kommt jetzt darauf an, unser Land und unsere Wirtschaft am Laufen zu halten und für die Zukunft aufzustellen.“ Von Aufrüstung und Kriegsgefahr ist keine Rede. Die zusätzlichen 500 Milliarden Euro Sonderschulden für Infrastrukturmaßnahmen werden als Erfolg bei der Sicherung eines modernen Industriestandorts verkauft. Dass es dem Staat dabei um die Instandsetzung und den Ausbau der zur Führung eines Kriegs notwendigen Infrastruktur geht, wird verschwiegen. Konsequenterweise erklärt der DGB zu den Ostermärschen in diesem Jahr „Es droht eine Neuaufteilung der Welt zwischen den drei Großmachtkonkurrenten USA, China und Russland.“ „Vor diesem Hintergrund sehen auch der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften die Notwendigkeit, in Deutschland und Europa verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, um gemeinsam verteidigungsfähiger zu werden.“
Bereits vor einem Jahr am 9. Februar 2024 formuliert die IG Metall in einem gemeinsamen Positionspapier mit dem Wirtschaftsausschuss der SPD und dem Verband der Rüstungsindustrie „Deutschland und Europa brauchen ein industriepolitisches Konzept zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie und zum Aufbau und zur Entwicklung eigener leistungsfähiger Verteidigungssysteme in den Dimensionen Land, Luft und See.“ Zusammengefasst heißt das: Aufrüstung zur Durchsetzung deutscher Wirtschaftsinteressen gegen feindliche Großmächte.
Klassenkampf ist Arbeiterpolitik
Hinter der gewerkschaftlichen Argumentation zur Stärkung des Industriestandortes und der Rüstungsindustrie steckt die falsche Vorstellung eines angeblich gemeinsamen nationalen Interesses von Lohnabhängigen und Kapitalisten an einer erfolgreichen deutschen Wirtschaft. Diese Idee wird von unterschiedlichen politischen Akteuren geteilt. Das BSW fordert in seinem Programm zur Bundestagswahl „Deindustrialisierung stoppen – ein Comeback für die deutsche Wirtschaft!“ Die Partei Die Linke stimmt aus „landespolitischer Verantwortung“ im Bundesrat der Grundgesetzänderung zur Aufhebung der Schuldenbremse für Kriegszwecke und zu den 500 Milliarden Euro Sonderschulden zu. Von den Regierungsparteien und den Parteien der abgewählten Ampel-Regierung, welche allesamt Deutschland als militärische Führungsmacht bei der Umstellung auf eine europäische Kriegswirtschaft sehen, ganz zu schweigen.
Es gibt weder ein gemeinsames nationales Interesse an der Hingabe unserer Arbeitskraft, Leistungsfähigkeit, Kreativität und Gesundheit an die Eigentümer der Produktionsmittel, noch ein gemeinsames nationales Interesse an der Opferung des eigenen Lebens für den Staat und seine mörderische Kriegsmaschine. In Anbetracht eines heraufziehenden Krieges können wir uns nach 111 Jahren und zwei Weltkriegen keine weitere Fehlermeldung aus den Vorstandsetagen und Geschäftsstellen der Gewerkschaften leisten. Nicht Standortlogik und Mitbestimmung, sondern Klassenkampf ist Arbeiterpolitik!
Quelle: Yeni Hayat / Neues Leben