Der Klimawandel ist ohne Systemwandel nicht auf zuhalten

Die Fotos von politischen Seminaren ändern sich. Statt der Rücken aufmerksamer ZuhörerInnen zeigen diese Bilder aufgereihte Kacheln mit Gesichtern eines Videoprogramms. So auch am 6. Februar 2021 beim Seminar der Marx-Engels-Stiftung „Klima und internationale Politik“. Es ging bei diesem Seminar nicht um die Frage ob und wie E-Mobilität den Klimawandel vermeiden kann oder was Philosophen zur Arbeit und Natur zu sagen hatten, sondern um globale Aspekte des Klimawandels aus naturwissenschaftlicher Sicht. Dabei geriet die Frage nach der Bedeutung der politischen Ökonomie und der politischen Machtverhältnisse keineswegs an den Rand. Im Gegenteil die Aussage „Klimawandel ohne Systemwandel kann und wird es nicht geben“ war stets präsent. In zwei äußerst faktenreichen Vorträgen sprachen Helmut Selinger, Physiker und Autor von mehreren Beiträgen beim Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung München, sowie John Neelsen, Soziologe und Vertrauensdozent der Rosa Luxemburg Stiftung, über das Anthropozän, die ungleiche Verteilung der Erdressourcen zwischen Staaten und Klassen sowie die Möglichkeiten Klimagerechtigkeit herbei zu führen.

John Neelsen zeigte mit Grafiken und Zahlen auf, dass in den letzten beiden Jahrhunderten der Mensch durch die Industrialisierung ein neues Erdzeitalter, das Anthropozän, eingeläutet hat. Darunter versteht die Wissenschaft ein Zeitalter, in dem der Mensch zum wichtigsten Einflussfaktor der biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. Der Lebensstandard und die Wachstumsideologie gehören zu den Treibern der klimatischen Änderungen. Neelsen bleibt nicht bei einer neutralen Position ‚der Mensch‘ stehen, sondern zeigt, dass es einen systemischen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Industriekapitalismus und fossilen Energieträgern, Zweck-Mittel Rationalität und Umweltzerstörung, Wohlstand und Einkommensungleichheit mit analogen Treibhausgasemissionen gibt. Er forderte, dass weltweit die reichen Länder und sozialen Oberschichten, in die Verantwortung genommen werden. Der Verbrauch der fossilen Ressourcen mit dem das Klima am stärksten belastenden CO2-Emissionen müsse sofort begrenzt werden, da durch steigende Temperaturen und Naturverbrauch die materiellen Rahmenbedingungen der Zivilisation durch zunehmende Wasserkonflikte und politische Instabilität, Hunderte Millionen Hungernde und Umweltflüchtlinge zu befürchten seien. Seine Forderung: Schluss mit dem weiteren Wachstum im ‚Norden‘ und lediglich ‚nachhaltiges Wachstum‘ im Süden. Dass dies unmittelbar mit dem Kräfteverhältnis in der politischen Auseinandersetzung zu tun hat, strich Neelsen sehr klar heraus. Er verwies auf die Profiteure der fossilen Industrien und Nationen, die ölfördernden Länder, die USA mit Fracking und die Hersteller in der Automobilindustrie. Er benannte den Kapitalismus mit der imperialen Wirtschaftsweise als den Verursacher. Die von Politik und Medien ins Spiel gebrachten ‚Lösungen‘ wie technikorientierte ‚Green Deals‘ oder das „Carbcon Capture and Storage“ (das Verklappen von CO2 in riesigen unterirdischen Speichern) bezeichnete er als untauglich.

Wie ein Ausgleich zwischen reichen und armen Ländern erreicht werden könnte, erläutert Helmut Selinger in einem Vorschlag „Klimagerechtigkeit“. Das Modell basiert auf der These, dass aus einfachen Annahmen zur globalen Klimagerechtigkeit eine präzise Aufteilung der CO2-Emissionsrechte auf alle Länder berechnet werden kann. Er bezieht in die Modellrechnungen die bereits vollzogenen Emissionen von CO2 in den letzten 30 Jahren ein und berechnet sogenannte Budgets, die ab sofort den einzelnen Ländern noch zustehen, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Länder wie Deutschland und die USA hätten ihre Budgets bereits komplett überzogen, während Ländern wie Indien oder selbst China (allerdings nur noch für wenige Jahre) durchaus noch Budgets für ihre Entwicklung zur Verfügung stünden. Er fordert, dass die Treibhausgasemissionen einzelner Staaten gemessen an ihrer Bevölkerungszahl betrachtet werden müssen, wobei zu berücksichtigen sei, dass in Ländern wie Indien, China, Bangladesch u. a. große Mengen an CO2 entstehen, weil sie für den Norden produzieren. Selinger leitet daraus ab, dass Länder des globalen Nordens Ausgleichszahlungen an Länder des globalen Südens zahlen müssen, damit diese auf klimaschädliche Technologien verzichten können und in die Lage versetzt werden, die fossilistische Phase zu überspringen, sowie gezielt klimaverträgliche Entwicklungs- und Klimaschutzprojekte zu finanzieren. Selinger sieht einen pro Jahr 900 Milliarden schweren UN-Klimafonds, aus dem die armen Länder ihre Entwicklung finanzieren und ihre Ansprüche auf Ausgleich völkerrechtlich einfordern können. Zur Finanzierung der Einzahlungen in solch einen Klimafond schlägt Selinger vor, die Subventionierung bisheriger umweltschädlicher Techniken zu beenden, die Rüstungsausgaben zu senken oder eine anspruchsvolle Transaktionssteuer einzuführen und höhere Abgaben auf den CO2-Verbrauch festzulegen. Deutschland hätte nach diesen Berechnungen zirka 40 Milliarden Euro pro Jahr beizusteuern.

Gunhild Hartung aus Nürnberg moderierte das Seminar mit 40 über die ganze Republik verteilten TeilnehmerInnen. Zu den Diskussionsbeiträgen gehörte die Forderung, die Rolle der Ressourcenverschleuderung durch das Militär und deren Aufrüstung intensiver zu thematisieren, die Anstrengungen der VR Chinas für den Klimaschutz genauer zu untersuchen, statt nur auf absolute Emissionszahlen zu schauen sowie die Rolle der Arbeiterbewegung in der Ökologiebewegung näher zu diskutieren. Zu Recht wies die stellvertretende Bundesvorsitzende der Naturfreunde darauf hin, dass bei den Diskussionen über die globale Klimafragen, die originale Stimme der unmittelbar Betroffenen in Afrika oder Asien fehlt. Nicht ausdiskutiert wurde das vorgestellte Modell der Klimagerechtigkeit durch Ausgleichszahlungen sowohl bezüglich des Aspekts wie eine Bepreisung die Reduzierung tatsächlich garantieren könne, da es Klassen gäbe, die sich ihren Standard einfach leisten, als auch bezüglich der Frage, wie ein derartiges Modell in der internationalen Klimapolitik angesichts der imperialistischen Interessen durchgesetzt werden kann. Über eins waren sich die Referenten und Teilnehmenden aber einig. Ohne die Ablösung des herrschenden kapitalistischen Systems wird die am Ende erfolgreiche Bekämpfung des menschengemachten Klimawandels nicht funktionieren. Es gibt also noch viel Raum für weitere Seminare der Marx-Engels-Stiftung zu diesen Themen.

Die Folien der beiden Vorträge können über die Homepage der Marx-Engels-Stiftung abgerufen werden:

Quelle: UZ – Unsere Zeit – Der Klimawandel ist ohne Systemwandel nicht auf zuhalten