Antworten des Außenministers der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, auf Fragen des TV-Senders „Rossija 1“, Moskau, 22. Februar 2022

Frage: Wie können Sie die internationale Reaktion auf den Beschluss des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, über die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk kommentieren? Darunter Vertreter der Vereinten Nationen, die sich auf die Dokumente über Respekt der Souveränität der Staaten berufen.

Sergej Lawrow: Die Reaktion ist bekannt. Sie ist schon in aller Munde. Damit sind TV-Bildschirme und Medien, Internet, Soziale Netzwerke überfüllt. Die Reaktion war erwartet, was unsere westlichen Kollegen betrifft. Sie haben sich in den letzten Jahrzehnten daran gewöhnt, alle Probleme auf die Russische Föderation abzuwälzen, uns alles zur Last zu legen. Natürlich wurden wir darauf aufmerksam, Sie erwähnten die Reaktion des UN-Generalsekretärs, dessen Sprecher sagte, das Antonio Guterres unseren Beschluss über die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk als Beschluss betrachte, der das Prinzip der Souveränität und territorialen Integrität verletze. Unsere Kollegen im UN-Sekretariat sollen sich auf Beschlüsse stützen, die in dieser Organisation verabschiedet wurden. Die Beschlüsse, die dabei entscheidend sind, was die Umsetzung der Prinzipien und Ziele der UN-Charta betrifft. Sie wurden einstimmig auf Grundlage von Konsens angenommen, also mit Stimmen aller ohne Ausnahme Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen.

Was das Prinzip der Souveränität und territorialen Integrität betrifft, ist eines der wichtigsten Dokumente, das alle Juristen als grundlegendes Dokument bei der Deutung der UN-Charta bezeichnen, die Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten betreffen.  Sie wurde 1970 verabschiedet und verlor nicht ihre Aktualität. Diese Deklaration wurde nie und nirgendwo in Frage gestellt. Bei der Deutung des Prinzips der Souveränität und territorialen Integrität wird in dieser Deklaration hervorgehoben, dass es „in Bezug auf alle Staaten, die in ihren praktischen Handlungen das Prinzip der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker einhalten, und dementsprechend Regierungen haben, die ohne Unterschied von Rasse, Glauben bzw. Hauptfarbe das ganze Volk, das auf diesem Territorium wohnt, vertreten, eingehalten werden soll“.

Ich denke, dass niemand behaupten kann, dass das ukrainische Regime, seit dem Staatsstreich 2014, das ganze Volk vertritt, das im ukrainischen Staat wohnt. Viele Regionen der Ukraine lehnten solchen verfassungswidrigen Schritt ab, der die tragischen Seiten in der ukrainischen Geschichte einleitete. Das, was sich auf der Krim, in der Ostukraine ereignete, zeigt, inwieweit diese Regierung, dieses Regime von Millionen Einwohnern der Ukraine damals verleugnet wurde.

Ich möchte, dass die Führung des Sekretariats sich auf Basisprinzipien, auf denen die Organisation gemäß den Beschlüssen der Mitgliedsstaaten beruht, stützt, bevor man irgendwelche Erklärungen macht.

Frage: Wie ist jetzt das Schicksal der Minsker Abkommen?

Sergej Lawrow: Die Minsker Abkommen wurden vom ukrainischen Regime mit Füßen getreten. Sofort nach ihrer Unterzeichnung kam Präsident Pjotr Poroschenko in die Oberste Rada und begann sich zu rechtfertigen, statt dieses sehr wichtige Dokument zu verteidigen, das es ermöglichte, den Krieg zu stoppen und einen Weg zur friedlichen Regelung der Aufrechterhaltung der territorialen Integrität der Ukraine eröffnete. Der damalige Außenminister Pawel Klimkin begann zuzusichern, dass diese Abkommen nichts wert seien, es sei einfach ein „Stück Papier“, und die Ukraine keine Verpflichtungen übernommen habe. Sie hatten Angst davor, die eigene Position, den Konsens, der in Minsk unter Teilnahme der Präsidenten der Ukraine, Russlands, Frankreichs und Deutschlands erreicht worden war, zu verteidigen. Doch dass die Kollegen jetzt die Schuld auf Russland für den Zerfall der Minsker Vereinbarungen abzuwälzen versuchen – das verstehen wir auch.

Unsere europäischen, amerikanischen, britischen Kollegen werden sich nicht beruhigen, solange sie ihre Möglichkeiten für die so genannte „Bestrafung“ Russlands nicht ausschöpfen. Sie drohen bereits mit allen möglichen Sanktionen – „höllischen“ oder, wie man jetzt sagt, „Mutter aller Sanktionen“. Wir haben uns daran gewöhnt, Präsident Wladimir Putin bezeichnete bereits unsere Position. Wir wissen, dass Sanktionen jedenfalls eingeführt werden, mit und ohne Anlass.

Ich möchte zu meinem großen Bedauern eine negative und provokative Rolle der Europäischen Union hervorheben, die bereits nicht zum ersten Mal beweist, dass sie nicht für ihre Worte und Taten zuständig sein kann. Vor dem Staatsstreich im Februar 2014 war es gerade die EU, vertreten durch Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs, die als Garant des Abkommens, das damals zwischen der Opposition und Janukowitsch unterzeichnet worden war, auftrat. Als die Opposition dieses Abkommen am nächsten Morgen brach, wobei auf Vertreter der Europäischen Union gepfiffen wurde, musste die EU sich damit abfinden. Kurz danach sagte die EU, dass es nicht ganz ein Staatsstreich, sondern Teil eines demokratischen Prozesses war. Es ist beschämend. Als jene, die die EU verziehen hat und sogar unterstützte, unverzüglich mit russlandfeindlichen Initiativen begannen, hörte er schweigend und rief diese Menschen dazu auf, die Gewalt „proportionell“ anzuwenden. Als die Krim-Bewohner gegen den Versuch auftraten, ihre Region mit Gewalt zu ergreifen, wurden freiwillige bewaffnete Bataillone geschickt, um das Parlament der Republik Krim zu erstürmen. Damals wälzte die EU alles erleichtert auf die Russische Föderation ab.

Mit viel Mühe wurde geschafft, das Blutvergießen im Donezbecken im Februar 2015 zu stoppen, wieder unter Teilnahme europäischer Vertreter, und zwar der Anführer Frankreichs und Deutschlands, in Minsk wurden bei mehrstündigen Verhandlungen auf der höchsten Ebene die Minsker Abkommen abgestimmt, um deren Schicksal man sich jetzt Sorgen macht. Die ganzen sieben Jahre lang wurden unsere europäischen Kollegen darauf täglich aufmerksam gemacht, dass Kiew von ihnen nichts hält. Die ukrainischen Behörden machen nichts, sagen aber dabei öffentlich, dass sie die Minsker Abkommen nicht erfüllen werden.

Wir haben auf unserer Website eine ganze Liste solcher Zitate von Wladimir Selenski und seinem ganzen Team veröffentlicht und verbreiten diese Liste im UN-Sicherheitsrat. Denn anders könnten wir es kaum sicherstellen, dass Vertreter der Weltgemeinschaft über die Aktivitäten und Ideen des ukrainischen Regimes erfahren. Die EU tut nun einmal nichts, um Kiew zur Umsetzung der Vereinbarung zu bewegen, die unter unmittelbarer Beteiligung Paris‘ getroffen wurde. Sie erklären ja seit einem bzw. eineinhalb Jahren immer wieder, dass Russland in Wirklichkeit eine Konfliktseite wäre, dass Kiew nicht verpflichtet wäre, mit Donezk und Lugansk zu verhandeln, und es sollte mit Russland sprechen, weil die beiden nichts entscheiden.

Ich muss solche empörenden Positionen hervorheben, die von unseren europäischen Kollegen zum Ausdruck gebracht werden. In jedem anderen Konflikt, der in der UNO so oder so behandelt wird (und die Minsker Vereinbarungen wurden vom UN-Sicherheitsrat gebilligt, und in der Resolution stand klar und deutlich geschrieben, dass Kiew, Donezk und Lugansk  die Seiten sind), lehnt der Westen das Prinzip des direkten Dialogs zwischen Ländern nicht ab. Sehen Sie sich die Situation in Zypern an: Im Norden wurde einseitig die Türkische Republik Nordzypern ausgerufen, die die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats nicht erfüllen will, aber niemand versucht es, Vertretern Nordzyperns das Recht auf Teilnahme am Dialog abzustreiten. Oder nehmen wir die Situation in Äthiopien, in der Zentralafrikanischen Republik oder in jedem anderen Land, wo es einen innenpolitischen Konflikt gibt. Nirgendwo bestreitet  der Westen die Notwendigkeit des direkten Dialogs. Aber hier spricht er der Donbass-Region dieses Recht ab, nur weil die Behörden in Kiew ihre westlichen Betreuer zwingen, ihren Russlandhass zu teilen oder einfach verschweigen – als Triebkraft für alles andere.

Ich rede in der Vergangenheit. In der Situation, als die Minsker Vereinbarungen schon seit mehreren Jahren tot waren, weil Kiew seine Verpflichtungen sabotierte, während der Westen auf diese Position des Kiewer Regimes ein Auge zudrückte. Es ist allen klar, dass diese Vereinbarungen nicht von uns begraben wurden. Sehr kennzeichnend ist auch die Unfähigkeit der Europäischen Union, die Umsetzung ihrer eigenen Entscheidungen voranzutreiben. Das gilt nicht nur für die Ukraine-Krise, wo die EU mit ihren Garantien gescheitert ist, sondern auch für andere Richtungen der außenpolitischen Aktivitäten dieser Organisation.

Erwähnenswert ist beispielsweise die Kosovo-Krise. Da wurde einseitig die Unabhängigkeit ausgerufen, wobei die absolut meisten demokratischen Staaten aktiv „applaudierten“. Dabei wurde diese Unabhängigkeit nicht während der Gefechte ausgerufen, sondern während des direkten Dialogs zwischen Belgrad und Pristina. Das war im Jahr 2008. Der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs, Ex-Präsident Finnlands, Martti Ahtisaari, war für diese Richtung zuständig. Die Verhandlungen gingen ruhig weiter, aber plötzlich sagte er: „Wir müssen binnen einer gewissen Zeit die Vereinbarung treffen.“ Dabei legte er eine gewisse Deadline fest. Belgrad fragte, warum, doch ihm das nicht erklärt. Die Kosovo-Albaner sahen ein, dass die Zeit auf ihrer Seite war, und blockierten jegliche Fortschritte bei den Verhandlungen mit Belgrad. Als die im Ultimatum bestimmte Zeit abgelaufen war, verkündete der frühere Präsident Finnlands die Unabhängigkeit der Region Kosovo. Das ist, wozu direkter Dialog führt. Später, im Jahr 2013, bemühte sich die Europäische Union nach dem entsprechenden Aufruf der UN-Vollversammlung um den Dialog zwischen Belgrad und Pristina, und noch im selben Jahr wurde ein Konsens zur Bildung der Gemeinschaft serbischer Munizipalitäten im Kosovo erreicht. Genauso wie die Minsker Vereinbarungen einen Sonderstatus und gewisse Rechte für die Donbass-Region vorsahen, sah auch die Vereinbarung zur Bildung der Gemeinschaft serbischer Munizipalitäten im Kosovo ähnliche sprachliche und kulturelle Rechte für den Norden Kosovos vor, wo die Serben lebten. Aber seit 2013 weigert sich Pristina, seine Verpflichtungen zu erfüllen, die es im Sinne des damaligen Konsenses übernommen hatte, und die EU ist völlig hilflos und kann nichts damit tun. Also zweifeln wir immer mehr an der Fähigkeit der Europäischen Union, als Vermittler (wie sie sich selbst positioniert) zu handeln und dabei wenigstens einen minimalen Erfolg zu haben. Wir plädieren nach wie vor dafür, dass alle Probleme auf friedlichem Wege gelöst werden. in diesem Zusammenhang machen wir uns große Sorgen über die kriegerische Rhetorik des Kiewer Regimes, über die andauernden Waffenlieferungen, über Gefechte, die vom Kiewer Regime an der Grenze an die Volksrepubliken Donezk und Lugansk initiiert werden, die kein Ende finden. Aber jetzt wurden die Verträge über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe zwischen Russland und diesen neuen Staaten unterzeichnet, denen zufolge wir ihre Sicherheit garantieren. Ich denke, alle verstehen das.

Frage: Wäre das Kiewer Regime bereit, unter diesen Umständen eine weitere Eskalation einzugehen? In seiner „Nachtrede“ sagte Wladimir Selenski, dass man zu „konkreten Handlungen“ übergehen müsste.

Sergej Lawrow: Ja, ich habe gelesen, was er da gesagt hat. Von ihm kann man alles erwarten. Es ist ein unausgeglichener und unselbstständiger Mann, der von seinen amerikanischen Betreuern unmittelbar abhängig ist. Was übrigens den Einfluss der USA auf die Ukraine angeht, so musste ich mich sehr wundern, als ich die Erklärung der US-Botschafterin bei der UNO, Linda Thomas-Greenfield, las. Sie sagte nämlich, Russland würde allen damit Angst machen, dass die Ukraine versuchen könnte, an die russischen Atomwaffen ranzukommen, während die Ukraine das gar nicht wolle. Aus dieser Erklärung könnte man schließen, dass wenn die Ukraine das will, dürfte sie eigene Atomwaffen bekommen. Auf all diese rhetorischen „Eskapaden“ greifen unsere westlichen Kollegen zurück, nur um diese Konfrontation noch weiter anzufeuern. Sie versuchen gar nicht, nach Wegen zur Senkung des Spanungsgrads zu suchen, den sie selbst so hoch getrieben haben, und versuchen nur, die Russische Föderation aus dem Gleichgewicht zu bringen und unsere Entwicklung einzudämmen, wie Präsident Putin in seiner gestrigen Ansprache an das russische Volk gesagt hat. Das ist traurig.

Wir sind nach wie vor für den Dialog offen. Wir wollen verstehen, worüber dieser Dialog nur geführt werden könnte. Wenn darüber, dass Russland erniedrigt und für alles verantwortlich gemacht wird, dann kommt ein solches Gespräch nicht infrage. Falls unsere Partner die legitimen Besorgnisse Russlands gehört haben, die wir noch im Dezember 2021 zum Ausdruck brachten, was das Projekt der juristisch verbindlichen Sicherheitsgarantien in Europa angeht, dann sind wir bereit, diesen Dialog fair, auf Basis der Gleichberechtigung, des Respekts und der Interessenbalance weiter zu führen. Dieser Dialog sollte sich auf  die Erfüllung aller Verpflichtungen stützen, die wir zuvor zwecks Förderung der gleichen und unteilbaren Sicherheit für alle in unserer gemeinsamen Region übernommen haben.

Quelle: Außenministerium der Russischen Föderation