Tatort Ostsee

ZLV Zeitung vum Letzeburger Vollek
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Deutsche und US-amerikanische Medien suchen mit einer alternativen Tatversion zum Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines den begründeten Verdacht einer staatlichen Täterschaft der USA zu verdrängen. Laut Berichten, die auf beiden Seiten des Atlantik im Lauf des Dienstags veröffentlicht wurden und sich auf anonyme Regierungsquellen aus den USA wie auch auf unbestätigte Ermittlungen deutscher Behörden stützen, soll eine sechsköpfige Gruppe eventuell ukrainischer oder russischer Nationalität die Tat mit Hilfe einer in Rostock gemieteten Jacht im Alleingang begangen haben.

Man habe, heißt es, keinerlei Hinweise auf irgendeine staatliche Mitwirkung. Das erstaunt auch deshalb, weil bisher aufgrund des erforderlichen immensen Aufwands eine staatliche Täterschaft als einzige feststehende Tatsache galt. Zum Beleg für die alternative Tatversion wird erklärt, die deutschen Ermittler hätten Mitte Januar Sprengstoffspuren auf einem Tisch in der Jacht entdeckt – fast vier Monate nach der Tat. Die alternative Version leistet vor allem eins: Sie lenkt den Verdacht von den USA ab.

Ein Staat als Täter

Eine in sich stimmige, auf mindestens eine Insiderquelle gestützte Erklärung des Anschlags auf die Nord-Stream-Pipelines hatte kürzlich der investigative US-amerikanische Journalist Seymour Hersh geliefert. Hershs Erklärung ging konform mit der von Anfang an allgemein geteilten und nie ernsthaft bestrittenen Überzeugung, der Anschlag könne lediglich von staatlichen Kräften ausgeführt worden sein: Die erforderlichen Kenntnisse über die Pipelineverläufe, die Fähigkeit, riesige Mengen an Sprengstoff zu den Tatorten zu transportieren, sowie die für Tauchoperationen in großer Tiefe notwendige Spezialausrüstung seien – zumal kombiniert – nur bei staatlichen Stellen verfügbar, hieß es.

Im Hintergrund schwangen vor allem in der Zeit unmittelbar nach dem Anschlag stets Andeutungen mit, Rußland sei für die Tat verantwortlich; manche Politiker und Medien beschuldigten Moskau explizit. Allerdings war diese Behauptung so wenig wahrscheinlich, daß Medien in den USA Ende 2022 unter Berufung auf zahlreiche Quellen in Diplomatie und Geheimdiensten berichteten, es könne kein einziger Beleg für eine etwaige russische Täterschaft präsentiert werden; die »New York Times« zitierte einen Regierungsmitarbeiter aus Westeuropa mit dem Eingeständnis: »Die Überlegung, daß es Rußland war, hat für mich nie Sinn ergeben.«

Hershs Recherchen

Seymour Hersh berichtete dann, die Sprengung der Pipelines sei von der USA-Regierung in Auftrag gegeben sowie anschließend von USA-Stellen konkret geplant worden. Taucher aus den USA hätten die Sprengsätze im Juni 2022 während eines Großmanövers in der Ostsee (»BALTOPS 2022«) an den Erdgasleitungen angebracht; die Zünder seien schließlich am 26. September von einer Sonarboje ausgelöst worden, die von einem norwegischen Seefernaufklärer abgeworfen worden sei. Seymour Hersh beschrieb dabei nicht nur den Ablauf der Tat plausibel und konform mit bekannten Fakten; er nannte auch ein Motiv: Die USA-Administration habe es der deutschen Bundesregierung endgültig unmöglich machen wollen, auf das russische Angebot zur Wiederaufnahme der Erdgaslieferungen einzugehen.

Seymour Hersh wurde für seine Recherchen zum Beispiel in der »Süddeutschen Zeitung« am 10. Februar 2023 als »Meister … der Fantasien« diffamiert, der seinen exzellenten Ruf »dem Geschäft mit der Konspiration« opfere; sogenannte Faktenfinder suchten seine Thesen zu widerlegen. Dabei beriefen sie sich auf angeblich unabhängige Quellen aus der deutschen Bundeswehr oder übersetzten den Ausdruck »plant shaped C4 charges« (»C4-Hohlladungen anbringen«) fälschlich mit »Sprengstoff in Pflanzenform«, um dies als »unwahrscheinlich« auszuschließen.

Alternative Tatversion

Seit Dienstag wird nun von Medien zunächst in den USA, dann auch in Deutschland eine alternative Tatversion geschildert, die sich stark auf anonyme Mitarbeiter von Regierungsstellen der USA stützt – also auf genau jene Behörden, die Hersh der Tat bezichtigt. Zuerst hieß es in der »New York Times« am 7. März, der Anschlag sei von »Gegnern des russischen Präsidenten Wladimir Putin« begangen worden; es könne sich bei ihnen um Ukrainer oder durchaus auch um Russen gehandelt haben. Letzteres spielt wohl darauf an, daß am 2. März der russische Faschist Denis Kapustin mit einer Miliz namens »Russisches Freiwilligenkorps« aus der Ukraine in die russische Region Brjansk einmarschierte. Die Miliz, die dabei mindestens zwei Personen ermordete, gehört derjenigen Strömung der russischen extremen Rechten an, die nicht auf ein russisches Großreich, sondern auf einen kleineren, nach völkischen Kriterien »ethnisch reinen« russischen Nationalstaat orientiert und die Regierung unter Präsident Wladimir Putin erbittert bekämpft.

Greifbare Belege für ihre alternative Tatversion brachte die »New York Times« nicht vor; sie mußte im Gegenteil sogar einräumen, daß selbst Regierungsmitarbeiter der USA »geteilter Meinung« darüber seien, wie ernst man die Spekulationen zu nehmen habe.

Verspäteter Sprengstoff-Fund

Etwas konkreter wurden deutsche Medien, die gleichfalls am Dienstag erste Berichte mit einer alternativen Tatversion veröffentlichten. Demnach sei der Anschlag von »sechs Personen unklarer Nationalität« begangen worden – von einer »Gruppe aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin«, wie die Tagesschau der ARD am Dienstag meldete. Die Gruppe soll am 6. September in Rostock eine Jacht mit Sprengstoff beladen haben, die von einer Firma in Polen angemietet worden sei; die Firma befinde sich im Besitz zweier Ukrainer. Das Boot sei am 7. September in Wieck auf der Halbinsel Darß sowie später auf der dänischen Insel Christiansø nordöstlich von Bornholm identifiziert worden.

Auf dem Tisch in der Schiffskabine seien Spuren von Sprengstoff entdeckt worden, heißt es weiter. Allerdings fand die Durchsuchung der Jacht erst vom 18. bis zum 20. Januar statt – annähernd vier Monate nach dem Anschlag. Wie nachzuweisen sein soll, daß die Sprengstoffspuren bereits am 6. September oder in den Tagen danach auf den Kabinentisch gelangt sein sollen, ist nicht ersichtlich. Ebenso unklar ist, wie eine sechsköpfige Gruppe im Alleingang eine Tat umgesetzt haben kann, von der bislang lediglich eines als gewiß galt: daß sie Kapazitäten staatlicher Strukturen voraussetzt.

Transatlantischer Rettungsanker

Zweifel an der alternativen Tatversion äußerte bereits am Dienstagabend Göran Swistek, ein Fregattenkapitän, der zur Zeit für die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik tätig ist. Wie Swistek urteilt, seien die Darstellungen »noch nicht so wirklich schlüssig«: »Für mich klingt das alles jetzt noch gar nicht überzeugend.« Allein der Umgang mit Sprengstoff und Zündern sowie Tauchen in extremen Tiefen erforderten »oftmals eine jahrelange Ausbildung, insbesondere im Militär«.

Zwar hat die britische Marine schon 2019 begonnen, Soldaten der ukrainischen Seestreitkräfte im Tauchen sowie im Umgang mit Minen zu trainieren. Allerdings liegen keinerlei Hinweise auf Verbindungen zu gegenwärtigen oder auch früheren ukrainischen Marinetauchern vor.

Ohnehin leistet die vollständig unbelegte alternative Tatversion vor allem eins: Sie bietet die Chance, die Recherchen von Seymour Hersh aus der allgemeinen Medienberichterstattung zu verdrängen – und mit ihnen zugleich die politisch unbequeme Tatsache, daß mutmaßlich einer von Deutschlands engsten Verbündeten nicht davor zurückschreckt, aus Gründen politischer Opportunität die Energieinfrastruktur der Bundesrepublik anzugreifen und sogar deren zentrale Elemente zu zerstören.

»Putin war`s«

Die »alternative Tatversion«, erheblich weniger plausibel als diejenige von Seymour Hersh, erweist sich damit vor allem als Rettungsanker für die transatlantische Bündnispolitik.

So schreibt die »Stuttgarter Zeitung am 9. März: »Die angebliche ‚Spuren in die Ukraine‘ lassen vielerlei Spekulationen zu. Gegen eine Aktion in staatlichem Auftrag sprechen die begrenzten Möglichkeiten des von westlicher Waffenhilfe existenziell abhängigen Sicherheitsapparats. Warum sollte Präsident Selenskyj durch solch einen Piratenakt ein Zerwürfnis mit dem wichtigsten Unterstützer in Europa riskieren? Aus vergleichbarem Grund ist es unwahrscheinlich, die Urheber im Westen zu vermuten. Warum sollten etwa die USA sich zu einer solchen Zerstörungsaktion hinreißen lassen, die geeignet wäre, die Solidarität gegen den Kriegstreiber Putin zu sprengen?

Da erscheint es plausibler, daß einer der vermögenden Gegner Selenskyjs die Finger im Spiel hatte, um diesen bloßzustellen. Putin wäre ein solches Korsarenstück allemal zuzutrauen. Er verfügt über die technischen, finanziellen und militärischen Erfordernisse – und die nötige Ruchlosigkeit.«

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek