Meister der Doppelmoral

Die direkten Konsequenzen des Ukraine-Kriegs für die globale Versorgung mit Getreide liegen offen zutage. Kriegsschäden aller Art – von der Zerstörung von Infrastruktur über die Verminung von Ackerflächen bis zum Mangel an Arbeitskräften, die umgekommen, an der Front oder geflohen sind – und Gebietsverluste haben die Ernte in der Ukraine empfindlich einbrechen lassen. Branchenexperten halten es für möglich, daß der Ertrag in diesem Jahr auf bis zur Hälfte der Rekordernte des Vorkriegsjahres 2021 fällt.

Entsprechend wird mit einem weiteren Rückgang der Getreideexporte gerechnet; Schätzungen belaufen sich auf ein Schrumpfen der Weizen- und Maisausfuhr um rund 15 bis 18 Millionen Tonnen gegenüber 2021 auf 27 bis 30 Millionen Tonnen.

Die Lücke auf dem Weltmarkt, die damit entsteht, werde perspektivisch wohl von Exporteuren aus Nord- und Südamerika gefüllt, vermuten Experten. Kurzfristig droht die Aussetzung des »Getreidedeals« die Lücke weiter zu vertiefen. Zwar sind die Getreidepreise, die zunächst kurz in die Höhe schnellten, inzwischen wieder auf das Niveau der vergangenen Wochen zurückgegangen – auch, da seit einiger Zeit zusätzliches Getreide aus Brasilien verfügbar ist. Dennoch bringt das Aussetzen der Schwarzmeer-Vereinbarung neue Belastungen in ohnehin schwieriger Zeit mit sich.

Sanktionen gegen Rußland

Letzteres gilt gleichermaßen dafür, daß die westlichen Rußland-Sanktionen immer noch russische Getreide- und Düngemittelexporte behindern. Zwar hat der Westen beides formal von seinen mehr als 14.000 einseitig verhängten Sanktionen ausgenommen. Doch werden die Lieferungen weiterhin von den Sanktionen gegen die russische Finanz- und Transportbranche behindert: Getreide und Dünger dürfen zwar theoretisch geliefert, können aber weder transportiert noch bezahlt werden. Die im vergangenen Jahr vereinbarten Ausnahmeregeln greifen in der Praxis nicht; dies träfe laut russischer Einschätzung auch auf ein neues Ausnahmeangebot zu, das die EU kürzlich präsentiert hat.

Im Ergebnis sind die russischen Düngemittelexporte im vergangenen Jahr zurückgegangen; bereits in den ersten zehn Monaten des Jahres 2022 schrumpften sie um zehn Prozent. Die aus dem Mangel resultierende Preissteigerung hat zwar Rußlands Einnahmen aus dem Düngemittelexport im selben Zeitraum um 70 Prozent in die Höhe schnellen lassen; sie lastet aber schwer auf dem Globalen Süden. Auch wenn die Preise inzwischen wieder etwas gesunken sind, liegen sie immer noch weit über dem langjährigen Mittel vor 2021.

Das hat Folgen: Laut einer Studie der University of Edinburgh haben Düngemittel- und Energiepreise einen viel stärkeren Einfluß auf die Getreidepreise als punktuelle Exportschranken wie die Aussetzung des Getreidedeals.

Mit zweierlei Maß

Daß die westlichen Staaten sich beharrlich weigern, zumindest diejenigen Rußland-Sanktionen aufzuheben, die Getreide- und Düngemittelexporte behindern, stößt auch im Globalen Süden auf Kritik. In der Tat ist die EU sehr wohl in der Lage, Lieferungen aus Rußland und ein gewisses Maß an Kooperation problemlos zu gewährleisten – dort, wo sie selbst ein klares Interesse daran hat. So ist die zivile atomare Kooperation von Firmen aus Rußland und aus der EU von den Sanktionen ausgenommen und wird ohne Probleme fortgesetzt. Auch Nickel kann weiterhin aus Rußland importiert werden, weil russische Nickellieferungen zurzeit nicht ersetzt werden können.

Über die »Druschba-Pipeline« wird weiterhin russisches Erdöl in einige östliche EU-Staaten geliefert – dies sogar, obwohl die Leitung über ukrainisches Territorium führt. Kiew kassiert dafür Transitgebühren aus Moskau. Stillgelegt hat die Ukraine hingegen die »Togliatti-Pipeline«, die Ammoniak aus Rußland nach Odessa leitet, um den globalen Düngemittelmarkt beliefern zu können; an ihr hat die EU kein Interesse, während ihre Stilllegung dem Globalen Süden deutlich schadet. Auch die im Süden fehlenden russischen Düngemittellieferungen interessieren die führenden Herrschaften in der EU nicht.

Konkurrenz um Flüssiggas

Ebenso gleichgültig sind die EU-Staaten mit Blick auf die Folgen ihres Erdgasboykotts für den Globalen Süden. Diese lassen sich aus aktuellen Statistiken ablesen. Demnach führte der Ausstieg der EU-Staaten aus dem Bezug russischen Pipelinegases dazu, daß der Import von Flüssiggas (Liquefied Natural Gas, LNG) erheblich gesteigert werden mußte.

Wie aktuelle Statistiken der U.S. Energy Information Administration (EIA) zeigen, führten die Anstrengungen von EU- Staaten dazu, daß der gesamte LNG-Import des Kontinents um bemerkenswerte 65 Prozent stieg. Dies wiederum führte unter anderem dazu, daß die »wohlhabenden« EU-Staaten in erbitterte Einkaufskonkurrenz mit ärmeren Ländern gerieten, in der letztere unterlagen und ihren Import stark reduzieren mußten. Dazu zählten vor allem mehrere Staaten Asiens.

Vom Markt gekauft

Besonders hart traf der mit großer Befriedigung verkündete Umstieg der EU auf Flüssiggas die Länder Südasiens; Indien, Pakistan und Bangladesch verloren zusammengenommen rund 18 Prozent ihrer LNG-Importe. Aus Pakistan wurde vor einigen Tagen gemeldet, dem Land sei es zum ersten Mal seit über einem Jahr gelungen, eine Flüssiggaslieferung auf dem Spotmarkt zu erwerben. Zuvor scheiterte dies daran, daß EU-Staaten verfügbare Mengen vollständig vom Markt kauften. Sogar vertraglich fest zugesagte Lieferungen nach Pakistan blieben aus.

So hat sich der italienische ENI-Konzern zwar eigentlich vertraglich verpflichtet, Pakistan von 2017 bis 2032 regelmäßig Flüssiggas zu liefern. Weil im vergangenen Jahr die Erdgaspreise in astronomische Höhen gestiegen waren, lohnte es sich für ENI aber recht oft, seinen Vertrag mit Islamabad zu brechen und LNG statt nach Pakistan nach Europa zu verkaufen; das rechnete sich, weil die Vertragsstrafe deutlich unter den in Europa erzielbaren Preisen lag. ENI erzielte damit einen Gewinn von 550 Millionen US-Dollar, während Pakistan wegen Erdgasmangels zeitweise Fabriken stilllegen und den privaten Konsum strikt beschränken mußte.

Eine Debatte darüber, ob es angemessen ist, im Rausch der gegen Rußland verhängten Sanktionen andere Länder ihrer Energieversorgung zu berauben, gibt es nicht in der EU.

Quelle: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek