Chronik eines angekündigten Putschversuchs

Sturm auf das Capitol in Washington. Screenshot: Stephen Ignoramus / Youtube
Sturm auf das Capitol in Washington. Screenshot: Stephen Ignoramus / Youtube

Der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez erzählt in seiner »Chronik eines angekündigten Todes« von der Gewissheit einer anstehenden Gewalttat, von der jeder weiß, aber die niemand verhindern will. Angesichts der gestrigen Ereignisse in der US-Hauptstadt Washington wirkt dieses Bild des Literaturnobelpreisträgers eindringlich. Seit Wochen, bereits vor der verlorenen Wahl, mobilisierte US-Präsident Donald Trump seine Anhänger für diesen Tag. Trump und Teile seiner Partei bereiteten das Fundament für das, was dessen zum Teil bewaffnete Milizen vor dem und im Capitol angerichtet haben. Die Bilanz bisher: Mindestens vier Todesopfer und zahlreiche Verletzte.

Eigentlich waren am Mittwoch die beiden Kammern des US-Kongresses zusammengekommen, um die Wahl von Joe Biden zum Präsidenten formell zu bestätigen. Am gleichen Tag verloren die Republikaner zudem mit der Nachwahl in Georgia ihre bisherige Mehrheit im Senat. Zur gleichen Zeit kamen jedoch Tausende Trump-Anhänger in der US-Hauptstadt zu einer Kundgebung zusammen. Während die Republikaner im Kongress wie angekündigt Widerstand gegen die Bestätigung des Wahlergebnisses leisteten, wiederholte Trump vor seinen Anhängern per Videobotschaft die Mär von der gestohlenen Wahl. Trump ermutigte seine Anhänger, sie sollten sich den »Diebstahl« nicht gefallen lassen und zum Capitol ziehen.

Diesem Aufruf folgend kam es wenig später zu Szenen, die um die Welt gingen. Die Trump-Anhänger, unter ihnen Faschisten und Angehörige reaktionärer Milizen, belagerten das Gebäude, in dem Senat und Repräsentantenhaus ihren Sitz haben. Eingeschlagene Scheiben, Tränengas, Qualm, Angriffe auf Pressevertreter und Sicherheitskräfte, Abgeordnete und bewaffnete Sicherheitskräfte, die die Türen des Plenarsaals verbarrikadierten, um sich zu schützen. Auf Twitter machten auch Fotos und Selfies von Randalierern die Runde, die in Büros eindrangen, Einschüchterungsbotschaften hinterließen oder wahllos Gegenstände stahlen.

Während bürgerliche Medien noch von Ausschreitungen sprachen, verurteilten demokratische Politiker bereits einen möglichen Putschversuch. Das Onlinemagazin der Kommunistischen Partei der USA, People‘s World, titelte von »Trumps faschistischem Aufstand«. Die Tatsache, dass der US-Präsident seine Anhänger gewähren ließ und sich stundenlang nicht zu den Vorgängen äußerte, verdeutlicht zumindest, dass sich Trump einiges von der Kongresserstürmung erhofft hat. In seiner nach Stunden über Twitter verbreiteten Videobotschaft rief er dann zwar vordergründig dazu auf, nach Hause zu gehen, wiederholte aber sein Mantra von der gestohlenen Wahl.

Bürgerliche Medien und Politiker zeigten sich prompt entsetzt und fragten, wie das Eindringen in ein Hochsicherheitsgebäude überhaupt möglich gewesen sei. Auch hier lieferten Fotos und Videos auf Twitter eine Erklärung und zeigten, wie Sicherheitskräfte die Absperrungen stellenweise öffneten und die Chaoten passieren ließ. Anders noch die Bilder aus dem Sommer vergangenen Jahres an selber Stelle. Als in Washington die Black-Lives-Matter-Bewegung protestierte, war das Regierungsgebäude von schwerbewaffneten Sicherheitskräften hermetisch abgeriegelt worden. So erscheint die Sicherheitslage vor dem Capitol am gestrigen Tag nicht nur fahrlässig, sondern in Zügen fast gewollt.

Die von den proto-faschistischen Ausschreitungen unterbrochene Sitzung zur Bestätigung von Bidens Wahlsieg wurde indes am späten Abend fortgesetzt. Angesichts der Ereignisse plädiert eine zunehmende Zahl von Abgeordneter inzwischen für eine

Mike Pence änderte auf Twitter sein Titelbild
Mike Pence änderte auf Twitter sein Titelbild

umgehende Absetzung des Präsidenten. Auch republikanische Politiker gehen auf Abstand zu Trump. Vizepräsident Mike Pence änderte sogar sein Titelbild auf Twitter. Es zeigt nun Joe Biden und dessen künftige Vizepräsidentin Kamala Harris und Joe Biden – ein deutliches Statement gegen Trump. Dieser äußerte inzwischen, er wolle eine reibungslose Amtsübergabe ermöglichen. Wie wahrscheinlich das ist, wird sich in den kommenden zwei Wochen zeigen. Schließlich ist Trump noch bis einschließlich 20. Januar im Amt.

Die Erstürmung des Capitols ist letztlich nur der traurige Höhepunkt einer langen Reihe an Entgleisungen. Auch wenn nur wenige mit der Heftigkeit der Unruhen gestern gerechnet haben, angekündigt haben sie sich. Verhindern wollte sie scheinbar niemand im Staats- und Sicherheitsapparat.

Bei Márquez geht es mit der Gewalttat, der Ermordung des jungen Santiago Nasar, um die Wiederherstellung der Familienehre. Trump interessiert nur die eigene »Ehre« sowie die Sicherung der Macht der US-Eliten, auch wenn das im Bürgerkrieg enden sollte.